Im Kriegsfall Versorgungskrise
Von Susanne Knütter
Der Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) klagt regelmäßig über zuwenig Lkw-Fahrer. Da wundert es nicht, dass er die aktuelle Panikmache nutzt, um seine Forderungen zu erneuern. Bereits jetzt fehlten 100.000 Fahrer in der Branche, sagte BGL-Hauptgeschäftsführer Dirk Engelhardt gegenüber Bild (Montagsausgabe). Komme es zu einem Angriff Russlands auf ein NATO-Land, »könnten bis zu 300.000 osteuropäische Fahrer wegfallen, die zurück in die Heimat müssen«.
Engelhardt fragt – zumindest offiziell – nicht, wie realistisch ein Angriff Russlands auf ein NATO-Land ist. Er erwägt nicht, dass – wenn die Auswirkungen auf seine Branche im Kriegsfall so verheerend wären – man doch eigentlich alles daran setzen müsste, einen Krieg zu vermeiden. Für Engelhardt ist es vor allem eine Gelegenheit, für BGL-Forderungen zu werben: »Wir brauchen mehr Frauen als Fahrer hinterm Lenkrad«, sagte der Verbandschef. »Dazu braucht es sichere Stellplätze und Lkw, die zum Beispiel mit eigener Dusche, Toilette und Küche ausgestattet sind.« Außerdem müssten Rentner reaktiviert werden, die früher selbst gefahren seien. »Aber auch alle, die beispielsweise bei Feuerwehren oder THW und anderen Lkw fahren.« Die aktuell alle fünf Jahre notwendige Qualifikationsprüfung müsse abgeschafft werden, verlangte Engelhardt. »Können wir im Ernstfall die Lücke von 400.000 Fahrern nicht schließen, können wir weder die Bundeswehr richtig unterstützen noch die Zivilbevölkerung vernünftig versorgen«, warnte er.
»Seit Jahren fehlen Fahrer. Und wir sehen, dass die Lücke mit Fahrern geschlossen wird, die aufgrund ihrer Lebenssituation schlechtere Bedingungen akzeptieren«, sagte Michael Wahl, der beim DGB-Beratungsnetzwerk »Faire Mobilität« unter anderem für internationalen Straßenverkehr zuständig ist, am Montag gegenüber jW. Seit einigen Jahren würden Fahrer aus Usbekistan, Belarus, der Ukraine und Tadschikistan angeworben, inzwischen auch aus Indien oder Simbabwe. Dabei gelte eine Faustregel: Je weiter die Entfernung zum Herkunftsland, um so schlechter die Arbeitsbedingungen am Einsatzort. Häufig ist die einzige Unterkunft dieser Fahrer die Lkw-Kabine, eine Unterkunft in der EU haben sie nicht. Wer nicht bereit sei, monatelang in der Fahrerkabine zu wohnen, oder wer ausstehende Löhne einfordere, werde unter Druck gesetzt oder auf die Straße geworfen. Dann stehe der Fahrer ohne Obdach und eventuell sogar mit Schulden da, die er zu Beginn aufgenommen hatte, um in der EU arbeiten zu können, oder weil verabredete Zahlungen einfach nicht gezahlt werden, aber der Fahrer seine Rückreise selbst organisieren und bezahlen muss. Wahl spricht von immer neuen Ausbeutungsmodellen in der Branche.
Die sind sogar für den BGL ein Problem, der immerhin Unternehmen organisiert, die selbst Fahrer anstellen – im Gegensatz zu den konkurrierenden Speditionen, die Subunternehmen beauftragen. Zusammen mit der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi setzt sich der BGL bisweilen gegen Sozialdumping und die damit verbundenen ruinösen Geschäftspraktiken ein. Die Tarifverhandlungen verlaufen dennoch alles andere als lösungsorientiert. Neben der Gastronomie ist die Logistik die Branche mit den niedrigsten Löhnen. Selbst in Bayern lagen die Löhne Anfang des Jahres noch um die 1.000 Euro unter dem Medianlohn. Über Anwerbemaßnahmen, die was kosten, wie etwa bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne, sprach BGL-Chef Engelhardt deshalb wohl lieber nicht.
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