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Aus: Ausgabe vom 22.07.2025, Seite 8 / Ansichten

Neue Krücken

Unternehmenschefs beim Kanzler
Von Arnold Schölzel
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Container am Stuttgarter Hafen (3.1.2024)

Möglichkeit und Wirklichkeit sind objektiv verschiedene Dinge und nicht dasselbe wie das subjektive Verhältnis von Wunsch und Realität. Nicht nur Führungskräfte des deutschen Kapitals bringen all das öfter durcheinander – historisch gesehen insbesondere, wenn sie einen Weltkrieg anzetteln. Kapitalistische Wirklichkeit sind jedenfalls Krisen, die Möglichkeiten, aus ihnen auf kapitalistischem Weg herauszukommen, laut Lenin immer vorhanden, aber zumeist um den Preis der Krisenverstärkung. Wer in Zeiten zugespitzter Krise Wirtschaftswachstum durch Aufrüstung, also am Ende durch Krieg, proklamiert, ist übler Demagoge oder Realitätsverleugner – oder wie die gegenwärtige deutsche Regierung mal wieder beides zusammen.

Also verkündete Friedrich Merz am Montag nach der Ankündigung deutscher Großkonzerne, bis 2028 mehr als 600 Milliarden Euro hierzulande zu investieren, zum wiederholten Mal seit Amtsantritt am 6. Mai: »Deutschland ist zurück.« Das spricht für Sturheit. Da sich die düsteren Wirtschaftsnachrichten häufen, überwiegt selbst im eigenen Gefolge Skepsis. Die Merzsche Fortsetzung des nationalistischen Geblöks lautete daher: »Wir sind kein Standort der Vergangenheit, sondern der Gegenwart und vor allem der Zukunft.« Der »Standort der Zukunft« schrumpft nach Merz’ eigenen Worten allerdings auf einen »Stimmungswechsel«, der angeblich in den Chefetagen vor sich geht und lediglich »verstetigt« werden muss. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Was den »Standort«, sprich das reichlich marode Gemeinwesen, angeht, hatte zum Beispiel der Konjunkturforscher Jens Boysen-Hogrefe am Montag morgen kommentiert: Seit über fünf Jahren sei die deutsche Industrie »im Rückwärtsgang«. Die Lage sei »wirklich relativ dramatisch«. Das falle nur nicht auf, weil der Staat eine Menge getan habe. Und selbst Ifo-Präsident Clemens »Kanonen statt Butter« Fuest hielt im RBB-Interview fest: »Wir sind derzeit ungefähr sieben Prozent unter dem Niveau von 2019 bei den Investitionen der Unternehmen.« Er sah im Treffen beim Kanzler eine Reklameveranstaltung der Großindustrie.

Das trifft es: Die Inszenierung einer Illusion gilt als Regierungskunst, wenn die Realität mal wieder nicht so ist, wie sie sein soll. Im übrigen galt am Montag im Kanzleramt die Maxime: Die Rüstung nicht erwähnen, schon gar nicht den Krieg. Größte Einigkeit herrschte dafür bei allen, die hier erwähnt wurden, über die Notwendigkeit von »Strukturreformen«. So heißt gegenwärtig die Schönfärberei für Kürzungen im gesamten Sozialbereich. Für den kündigte der für Illusionsabbau zuständige CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann am Montag parallel zu seinem Chef einen »Herbst der Reformen« an. Im staatsmonopolistischen Kapitalismus verhilft die Regierung dem Kapital nicht nur zu neuen Krücken, sie tut auch eine Menge, um die Wirklichkeit passend zu machen.

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