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Aus: Ausgabe vom 15.07.2025, Seite 6 / Ausland
Neukaledonien

Souveränität ohne Souveränität

Paradox: Neukaledonien soll unabhängig werden – Paris aber staatliche Hoheit behalten
Von Bernard Schmid, Paris
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Die Proteste des vergangenen Jahres zeigen ein wenig Wirkung: Neukaledonien kriegt wohl neuen Status (Nouméa, 23.5.2024)

Handelt es sich bei dem Abkommen über die Zukunft Neukaledoniens um das gelungene Beispiel einer Quadratur des Kreises? Oder um einen vorübergehenden, gar einen Formelkompromiss? Noch sind die Antworten auf diese Fragen ungeklärt. Doch dürfte eine Sache bereits feststehen: Französischen Juristen, vor allem den Verfassungsrechtlern sowie den Spezialisten für öffentliches Recht unter ihnen, »ist für 20 Jahre Arbeit beschafft worden«, so der Schlusssatz einer ersten Analyse der französischen linken Onlinezeitung Mediapart. Laut der Übereinkunft soll die Inselgruppe eine eigenständige »Souveränität innerhalb Frankreichs« erhalten und ein »Etat sui generis« (Staat eigenen Typus) werden.

Die Vereinbarung über das derzeit politisch und administrativ zu Frankreich gehörende Archipel im Westpazifik wurde am Sonnabend in Bourgival bei Paris unterzeichnet. Der Text trägt die Unterschriften von Kräften, die für die Unabhängigkeit des offiziell als »Überseegebiet« bezeichneten Neukaledoniens eintreten – vertreten durch Abgeordnete wie Emmanuel Tjibaou und Gewerkschafter wie Roch Wamytan. Er trägt auch die Unterschriften von notorisch gegen jede Vorstellung von Unabhängigkeit eintretenden profranzösischen »Loyalisten«, wie des Abgeordneten Nicolas Metzdorf und der Parlamentarierin sowie vormaligen Staatssekretärin in Paris, Sonia Backès. Und die Vereinbarung wurde ferner vom französischen »Minister für Überseeangelegenheiten« Manuel Valls, als Vertreter der Zentralregierung, unterzeichnet.

Nun muss die Vereinbarung aber zunächst noch durch ein Referendum auf dem Archipel angenommen werden, das voraussichtlich im Februar 2026 stattfinden wird, bevor es in Kraft treten und Rechtswirkung entfalten kann. Und davor soll, aller Wahrscheinlichkeit nach im Herbst 2025, ein »Kongress« – eine zu Verfassungsänderungen beschlussfähige Sitzung beider Kammern des französischen Parlaments – zusammentreten. Denn sonst stünde die geltende Verfassung in direktem Widerspruch zu dem Abkommen, sieht diese doch die »eine und unteilbare Republik« vor.

Hintergrund dessen ist, dass die 1853 von Frankreich unter Napoléon III. eroberte Inselgruppe, die in den darauffolgenden Jahrzehnten unter anderem als Sträflingskolonie benutzt wurde, künftig einen mit Frankreich »assoziierten Staat« bilden soll. Diese Formulierung verbirgt aber nur die Tatsache, dass es zwar eine eigene neukaledonische Staatsbürgerschaft – oder in der Sprache der altansässigen melanesischen Bevölkerung, eine Staatsangehörigkeit von Kanaky – geben soll, dass aber die Verteidigungs-, Innen- und Währungspolitik weiterhin in den Händen Frankreichs bleiben. Der »assoziierte Staat«, dessen Bewohner eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzen werden, die eigene und die französische, kann demnach allerdings eigenständige internationale Beziehungen aufnehmen und einen UN-Sitz einnehmen. Die Polizeihoheit bleibt grundsätzlich bei Frankreich, wobei jedoch die Provinzen über autonome Polizeikräfte verfügen sollen. Historisch ist die Südprovinz überwiegend von Europäern bevölkert und »loyalistisch« geprägt; die Nordprovinz mit ihren unfruchtbareren Böden, in die die »Kanaken« im 19. Jahrhundert abgedrängt wurden, ist melanesisch.

Im Mai 2024 kam es zu heftigen Unruhen, getragen vor allem von der kanakischen Jugend, nachdem der französische Zentralstaat versucht hatte, die im Vorgriff auf eine eventuelle spätere Unabhängigkeit seit 1988 »eingefrorenen« Wählerregister zu öffnen. Dies bedeutete aus Sicht der »Kanaken«, dass sie stärker in die Minderheit gedrängt würden – sie bilden derzeit rund 40 Prozent, Europäer rund 30 Prozent der knapp 300.000 Einwohner Neukaledoniens. Der Rest setzt sich zu ungefähr gleichen Teilen aus »Mischlingen«, Asiaten und Menschen aus anderen Teilen des Pazifik zusammen.

Die Unruhen, die für Schäden in Milliardenhöhe sorgten, blockierten den Plan von Regierungskreisen und »Loyalisten«, einfach gegen die altansässige Bevölkerung zu regieren. Ob diese aber ihre Interessen nun durchsetzen kann, wird die nähere Zukunft zeigen müssen.

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