Gegründet 1947 Dienstag, 15. Juli 2025, Nr. 161
Die junge Welt wird von 3019 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 15.07.2025, Seite 2 / Ausland
Iran nach Angriffen

»Wir müssen neoliberale Politik kritisieren«

Iran: Solidarität aus Lateinamerika nach israelischen und US-Angriffen. Arbeiter loyal, aber kämpferisch. Ein Gespräch mit Hamid Shahrabi
Interview: Marc Bebenroth
2025-06-20T002043Z_1786914857_RC2X5FA12G6S_RTRMADP_3_VENEZUELA-I
Tausende Menschen nehmen am Solidaritätsmarsch für Iran in Caracas teil und protestieren gegen die Angriffe durch Israel und die USA (19.6.2025)

Seit 2005 arbeiten Sie im House of Latin America, kurz HOLA, in Teheran daran, die Solidarität mit den Völkern Kubas, Venezuelas und anderer Staaten jener Region zu befördern, die ständiger Aggression und Einmischung durch den US-Imperialismus ausgesetzt sind. Wie stark ist die Solidarität in die andere Richtung, seit das israelische und das US-Militär iranische Wohngebiete sowie Atomanlagen bombardiert haben?

Während dieser jüngsten brutalen Bombardements standen Länder wie Kuba, Venezuela, Nicaragua und Bolivien – Mitglieder der ALBA (Bündnis »Bolivarianische Allianz für Amerika«, jW) – fest an der Seite Irans. Regierungsvertreter aus Kuba und Venezuela sind sogar zusammen mit einfachen Bürgern auf die Straßen in Havanna und Caracas gegangen, um ihre Solidarität mit unserer Nation zum Ausdruck zu bringen.

Hierzulande sprachen Politiker von einer iranischen Bevölkerung, die die Führung satt habe und für Demokratie sowie Bürgerrechte kämpfen müsse – Stichwort »Regime-Change«. Wie verbreitet ist diese Stimmung?

Angesichts ihrer miserablen Bilanz in Sachen Frieden und Menschenrechte fehlt europäischen Regierungen die moralische oder politische Autorität, dem Iran Ratschläge zu erteilen. Der deutsche Regierungschef behauptete sogar, Israel habe mit dem Angriff auf Iran auch Deutschlands Drecksarbeit erledigt! Ist das nicht ein klares Beispiel für imperialistische Arroganz? Selbstverständlich haben wir Probleme. Aber wer hat das Recht, sich mit diesen Problemen zu befassen: das iranische Volk oder die Regierungen der USA und Europas, die oft die Ursache für unsere größten Probleme – zum Beispiel die illegitimen und ungerechten Sanktionen – sind?

Wer sind die Menschen, die sich bei Ihnen engagieren?

Sie haben verschiedene politische Hintergründe. Während die meisten unserer Mitglieder junge revolutionäre Muslime sind, haben wir unter uns auch revolutionäre Sozialisten – mich selbst eingeschlossen. Die Leute bewundern die Widerstandsbewegungen in Lateinamerika. Sie halten Figuren wie Fidel Castro und Hugo Chávez in hohem Ansehen für deren unerschütterliche Hingabe für die internationale Solidarität mit unterdrückten Völkern.

Verteidigen Sie die Regierung und religiöse Führung oder bewahren Sie sich ihren eigenen, linken Standpunkt?

HOLA ist keiner bestimmten politischen Partei oder Fraktion in der vielfältigen politischen Landschaft Irans zugehörig. Meine persönliche Haltung, die von anderen geteilt wird, ist: Wir verteidigen die Islamische Republik Iran von ganzem Herzen gegen die imperialistische Aggression. Zugleich ist es unsere revolutionäre Pflicht, die neoliberale Politik zu kritisieren.

Stellen sich die Arbeiterorganisationen an die Seite der politisch-religiösen Spitze des Landes, oder kämpfen sie primär für bessere materielle Bedingungen?

Einerseits haben kämpferische Arbeiterverbände ihre Unterstützung für die Führung der Islamischen Republik zum Ausdruck gebracht, insbesondere im Zusammenhang mit der ausländischen Aggression seitens der USA und Israels. Diese Stimmung wird oft durch ein Gefühl des Nationalstolzes und der Einheit gegen äußere Bedrohungen genährt und führt zu großen Demonstrationen, bei denen die Arbeiter öffentlich ihre Treue zum obersten Führer und den revolutionären Idealen bekräftigen.

Andererseits konzentrieren sich die iranischen Arbeiter auch immer mehr auf ihre Klasseninteressen und setzen sich für bessere Löhne, sichere Arbeitsplätze und bessere Arbeitsbedingungen ein. Streiks und Proteste machen häufig auf wirtschaftliche Missstände aufmerksam, was darauf hindeutet, dass es zwar eine starke Strömung politischer Loyalität, aber auch eine dringende Forderung nach sozialer und wirtschaftlicher Gerechtigkeit innerhalb der Arbeiterschaft gibt.

Diese doppelte Ausrichtung verdeutlicht die Herausforderungen, mit denen die Arbeiter konfrontiert sind, wenn sie ihre Klasseninteressen mit breiteren politischen Narrationen in Einklang bringen wollen. Die Situation ist nach wie vor dynamisch, und es besteht ein ständiger Konflikt zwischen diesen beiden Aspekten der Arbeiterbewegung im Iran.

Hamid Shahrabi ist Mitbegründer und Koordinator des House of Latin America (­HOLA) in der iranischen Hauptstadt Teheran

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Ähnliche:

  • Tausende fordern auf dem Platz vor der Antiimperialistischen Tri...
    04.03.2024

    »Niemals mitschuldig«

    Lateinamerikanische Regierungen stellen sich hinter Nicaraguas Klage vor dem IGH gegen Deutschland. Demonstrationen in Kuba und Venezuela
  • Venezolanischer Öltanker vor der Küste Irans (Bushehr, 8.6.2022)
    14.06.2023

    Gegen US-Hegemonie

    Iran baut wirtschaftliche Beziehungen zu Lateinamerika aus. Erste Station auf Reise des Präsidenten ist Venezuela