Das kleine l
Von Stefan GärtnerVon Künstlern, Künstlerinnen trägt man ja meist ein Artefakt ganz besonders eng am Herzen, eins, an das man sich im Zusammenhang zuallererst erinnert, per Rückenmarksleitung sozusagen – bei mir und Ernst Kahl ist es eine zweiseitige, fibelartige Bildgeschichte, erschienen vor reichlich dreißig Jahren im Satiremagazin Titanic: »Als neulich in unserer Stadt die Synagoge brannte«, legen gründlich durchzivilisierte Bürger solidarisch den Judenstern an. »Dann trat die Polizei auf den Plan« und sperrt alle ins KZ, und zuerst wagt sich der Pastor (!) aus der Deckung: »Melde gehorsamst, Herr SS, ich bin gar kein Jude«; worauf alle entlassen werden unter dem Versprechen, »nie wieder solchen Schabernack« zu treiben. »Bei der nächsten Demo wurde dann wieder auf die bewährten Slogans zurückgegriffen«, als da wären: »Macht kein Scheiß«, »Das finden wir nicht witzig«.
Das ist natürlich viel elaborierter, lustiger und abgründiger, als ich es hier nacherzählen kann, und schöner lässt sich das Wort von der Gratissolidarität ja nicht auf den Witz bringen, einen Witz, der trocken zu nennen wäre, wenn das nicht wieder das Klischee vom Norddeutschen bediente. Ernst Kahl, geboren am 11. Februar 1949 bei Kiel, ist am 5. Juli bei Flensburg gestorben, und der reine Zufall will es, dass mir neulich einfiel, den Spielfilm »Wir können auch anders …« (1993) mal wieder anzusehn, diesen dosiert überdrehten Eastern als milde Westernparodie, zu der Ernst Kahl mit Regisseur Detlev Buck das Drehbuch schrieb und worin Trockenheit – anders als in Bucks nur mittelmäßig gut gealterten »Karniggels« (1991) – nicht manieriert ausgespielt, sondern vom wunderbaren Horst Krause und dem auch sehr guten Joachim Król als freundlichen Toren par excellence in etwas ganz Eigentliches gegossen wird. Die Lakonie ist nicht der Witz, sondern dient ihm bloß, das ist ein Unterschied; und wenn Kahl in seinem ständig erweiterten »Bestiarium perversum« zwischen humanoiden Erdferkeln und metametaphorisch flotten Hasen jenem Tier im Tier nachspürte, das natürlich das ewig menschliche ist, geschah auch das nicht als Karikatur, sondern in einer Kenntlichkeit, die nichts Entstellendes haben musste.
Auch die oben skizzierte Doppelseite, ihrerseits beinah noch eine Skizze, lebt von diesem schalkhaften Understatement, und da nun Journalisten davon leben, alles ins Klischee zu gießen, wäre Ernst Kahl so was wie das norddeutsche Gegenbild zum barocken Südlicht Rudi Hurzlmeier, wie es zu meinen immer wieder verschobenen, zwischen Steuererklärung und Zahnweh dann vergessenen Lebensprojekten gehört, von beiden je ein Bild zu besitzen; und es muss etwas zu bedeuten haben, dass ich mein Lieblingsbild von Ernst Kahl mit tatsächlich nur zwei Griffen ins Archiv gefunden habe. Noch einmal Titanic, Aprilausgabe 2006, innere hintere Umschlagseite: »Vergessene Großereignisse (14): Erstes Treffen der Freunde allgemeiner Ratlosigkeit. 7.4.1975, Kursaal Bad Homburg«. Da stehen nun zwanzig Leutchen herum (einer sitzt, einer spitzt zur Tür herein) und sind ratlos, und das ist ja nun wieder ein Klischee, dass Komik nur ihre Kehrseite auf links dreht; und also meiden wir es und sagen: Komik ist verdünnte Ratlosigkeit. Als Texter ohne jede zeichnerische Begabung verbeugt man sich dann schon vor dem Reihentitel, in dem sich, wiederum ohne Aufhebens, Fallhöhe fest eingebaut findet, was nicht heißt, dass die »erste Fußball-WM versehrter Motorbiker« im »Willy-Honda-Station Meppen, 20.6.05«, oder der »Reinhold Beckmann Ähnlichkeitswettbewerb« (»Köln, am 16. Juli 20006«) sich von selbst ergeben müssten, wobei es zur Kennzeichnung dieses herrlichen Blatts hier reichen muss mitzuteilen, dass der Wettbewerber, der gerade auf der Bühne steht, nichts anhat und mit dem Darmwind ein Liedchen pfeift. Man sieht schön seine kleinen Klöten. Des Sportmoderators Beckmann erstes Musikalbum erschien dann acht Jahre später.
Ich glaube zu wissen, dass, wer Ernst Kahl persönlich kannte, ihn »Ernstl« nannte (oder nennen durfte); es wäre schön, wenn das stimmte. Man soll ruhig skeptisch sein, wenn sich das Leben allzu willig als Großerklärerin anbietet, aber im Werk des komischen Malers, Zeichners, Skulpteurs und Sängers Ernst Kahl, der mit dem Gitarristen Hardy Kayser auch Platten aufgenommen hat, zu denen mir sofort das defizitäre Label »hintergründig« einfallen will, steckt genau dieses kleine l, das den Ernst des Lebens ins Diminutiv zwingt; oder sollen wir sagen: bittet? »A sunny day, but they stay in the dark / You hear them say: ›Heh, hast’ mal ’ne Mark?‹ / You look away and pay no attention / But are these folks nicht auch bloß Menschen? // This you should ask, yes, ask yourself / Doch ich weiß auch nicht, warum ich nicht helf.« Denn ernst ist zwar das Leben, doch die Kunst nicht einfach heiter, das wäre zu simpel; und in der Reihe »Kahls lustige Sammelbilder« sitzt darum »mein Großonkel Max« Zeitung lesend und Stumpen rauchend auf dem Kindernachttopf, was das Kind mit großem, auf uns gerichtetem Blick nur weinend zur Kenntnis nehmen kann.
Und da hat man nun die Wahl: zu weinen, dass Ernst Kahl nicht mehr ist, oder sich zu freuen, wie wunderbar viel von ihm bleibt. Etwa das Original der »Ratlosen Freunde«; ein Angebot darf die Redaktion gern weiterleiten.
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