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Aus: Ausgabe vom 10.07.2025, Seite 14 / Leserbriefe

Aus Leserbriefen an die Redaktion

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»Das Feuer, nicht die Asche«

Zu jW vom 27.6.: »Philosoph Erich Hahn gestorben«

Mit dem Volksmund gesprochen galt Erich Hahn viele Jahre als »Chefphilosoph« in der SED und DDR, was verständlich macht, dass sein Ableben am 24. Juni 2025 die Analytiker und Bewerter seiner Leistungen für die Entwicklung der Philosophie, die Politik der SED und das geistig-kulturelle Leben in der DDR auf den Plan rufen muss und wird. Lange genug wurde er seit dem Anschluss der DDR an die BRD dem Vergessen anheimgestellt oder diffamiert, statt die Leistungen und Grenzen, Stärken und Schwächen seines Philosophierens sachlich aufzuzeigen. Das will und kann ich mit meiner kurzen Wortmeldung nicht leisten. Am Herzen liegt mir, Erich Hahn persönlich zu danken.

Erstens verdanke ich ihm eine glückliche, vierjährige, planmäßige Aspiranturzeit von 1971 bis 1975 mit dem erfolgreichen Abschluss der Promotion. Die Kameradschaftlichkeit, die wechselseitige Hilfe und ein für das Innenleben der SED beachtlicher Grad politisch-theoretischer Offenheit und Ehrlichkeit in den vielen Debatten waren in seinem Institut charakteristisch. Aus heutiger Sicht wird deutlich, dass jene Jahre nach dem Wechsel von der »Ulbricht- in die Honecker-Ära« eine gewisse Phase des Aufschwungs und Tabubruchs in der SED darstellen, die allerdings aus vielerlei Gründen in den 1970er und 1980er Jahren schrittweise in eine Phase der Erstarrung und Stagnation übergingen.

Zweitens verdanke ich Erich Hahn die Rückkehr an die Akademie für Gesellschaftswissenschaften im Herbst 1989. Ich war 1986 aus einer politisch-militärischen Funktion »entfernt« worden, weil ich, wie es im entsprechenden Parteideutsch hieß, »in kompakter Form vom Marxismus­-Leninismus abgewichen« sei und mich auf »opportunistische und revisionistische Positionen« begeben hätte. Ich war entschlossen, nach der formalen Streichung der Parteistrafe die zweite Promotion anzustreben, denn selbst im Herbst 1989 hing ich noch der Illusion an, dass die SED-Politik mit Hilfe wissenschaftlicher Arbeit verändert werden könne. (…)

Die Hilfe und Unterstützung von Prof. Dr. Erich Hahn, dem Leiter des Instituts und Mitglied des ZK der SED, den ich aus den Jahren der Aspirantur persönlich kannte, spielten bei der Aufnahme meiner Tätigkeit an der Akademie eine entscheidende Rolle. Er war erfahren genug und politisch so klug, meine Parteistrafe wegen »Revisionismus« nicht ernst zu nehmen und ließ sich statt dessen von unserer während der Aspirantur entstandenen persönlichen Hochachtung und seiner eigenen Haltung leiten. Das Spektrum innerparteilicher Beziehungen offenbart eben viele Nuancen, auch eines Mitglieds des ZK.

Drittens verdanke ich Erich Hahn eine fast halbjährliche intensive Phase kritischer und selbstkritischer Auseinandersetzungen im Institut für Philosophie über die krisenhafte und letztlich gescheiterte Entwicklung der SED und der DDR. Solche Diskussionen wie in den Monaten November 1989 bis Ende März 1990, meinem Ausscheiden aus der Akademie, hatte ich bis dahin nicht erlebt und sind bis heute selbst unter den Linken leider nicht wieder bestimmend geworden. Ich empfand sie als einen Aufbruch aus »selbstverschuldeter Unmündigkeit«, wie es Erich Hahn, auf Kant fußend, verdeutlichte. Die Verteidigung Marxscher Positionen zum dialektischen und historischen Materialismus, die Auseinandersetzung mit dem »Stalinismus als System«, »der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit« als notwendiger und produktiver Kompromiss von SED und SPD waren nur einige der Themen, die Erich Hahn damals auf die Tagesordnung des Instituts setzte. Sträflicherweise wird diese besondere und gravierende Etappe meistens außen vor gelassen, wenn über die Entwicklung der Philosophie und Ideologie in der SED und DDR gesprochen wird.

Dass anfangs der illusionäre Gedanke der »Erneuerung« des Realsozialismus dabei eine große Rolle spielte, ähnlich wie auf dem Parteitag des Umbruchs von der SED zur PDS und im Aufruf einflussreicher Intellektueller der DDR, wird kein ernsthafter Historiker übersehen. Von Jean Jaurès stammt der für solche Phasen historisch-kritischen Nachdenkens wichtige Gedanke, dem auch Erich Hahn anhing: »Wir nehmen aus der Geschichte das Feuer, nicht die Asche.«

Lothar Tyb’l, per E-Mail

»Emanzipatorischer Ansatz«

Zu jW vom 4.7.: »Repression statt Schutz«

Regelmäßig ruiniert jW am Freitag auf Seite 15 ihren emanzipatorischen Ansatz mit dem Lob der Sexarbeit. Eine Expertin wird aufgeboten, die das »Narrativ der unfähigen, orientierungslosen« Prostituierten für »unwürdig« hält, die Zustände leugnend, unter die die Vielzahl derer gezwungen ist.

Walter Lambrecht, Rostock

»Laute Minderheit«

Zu jW vom 5./6.7.: »Totale Militarisierung«

(…) Der schon fast tagtägliche Widerstand gegen die Zwangsmobilisierung von der Straße weg, der durch zahlreiche Videos belegt ist, beweist das Gegenteil: Die »Asow«-Neonazis haben noch nicht die Hoheit über die ganze Ukraine. Sogar einfache Hausfrauen beteiligen sich am Widerstand und bewerfen schon einmal Beamte der Rekrutierungstrupps mit einem Konfitüre- oder Kompottglas, damit in der Schocksekunde der von den Häschern gefasste kriegsunwillige Ukrainer entfliehen kann. Wer ukrainische Medien liest, wird immer noch genug Zeichen der Kriegsmüdigkeit finden. Gemäß der neuesten Umfrage eines Internationalen Meinungsforschungsinstituts ist bereits die Mehrheit der Bevölkerung für Friedensverhandlungen und Kompromisse (wenngleich noch mit geringem Spielraum) und nur eine kleine Minderheit für weiteren Krieg bis zum erhofften Sieg. »Asow« mag deutlichen Zulauf haben, ist aber nach wie vor eine relativ kleine, aber dafür um so lautere Minderheit.

Martin Mair, Söchau

Erich Hahn wurde seit dem Anschluss der DDR dem Vergessen anheimgestellt oder diffamiert, statt die Leistungen und Grenzen, Stärken und Schwächen seines Philosophierens sachlich aufzuzeigen.

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