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Aus: Ausgabe vom 07.07.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Syrien

Geduldete Landnahme

In Syrien dringt Israels Armee immer weiter vor. Die Regierung in Damaskus nimmt es hin und verhandelt mit Tel Aviv über ein Normalisierungsabkommen
Von Wiebke Diehl
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Ein Blick auf zu besetzendes Land. Israelische Soldaten an der Grenze zu Syrien, Dezember 2024

Immer skrupelloser schalten und walten israelische Soldaten im Nachbarland Syrien. Am späten Abend des 3. Juli führten sie in der Nähe der Hauptstadt Damaskus einen mehrstündigen, großangelegten Angriff mit Hubschraubern und gepanzerten Fahrzeugen im Gebiet Yaafour durch. Auch in das Dorf Saysoun im Jarmuk-Becken im Westen von Deraa drangen israelische Truppen ein. Zudem hat die israelische Armee auf dem östlichen Al-Ahmar-Hügel im südlichen Gouvernement Kuneitra jüngst einen neuen Stützpunkt errichtet. Straßen, die Dörfer innerhalb der von Israel eingerichteten »Pufferzone« in Kuneitra verbinden, wurden zerstört, was die Sorge vor einer Errichtung neuer De-facto-Grenzen verstärkt.

Die israelischen Militärinvasionen und die fortschreitende Besatzung in Syrien werden von der demokratisch nicht legitimierten, nach dem Sturz von Baschar Al-Assad an die Macht gelangten Regierung weitestgehend widerspruchslos hingenommen. Die neuen Machthaber in Damaskus stehen offenbar auch in direkten Verhandlungen über ein sogenanntes Normalisierungsabkommen mit Tel Aviv, auch wenn die Regierung unter Abu Mohammed Al-Dscholani (bürgerlich: Ahmed Al-Scharaa), Chef des Al-Qaida-Ablegers Haiat Tahrir Al-Scham (HTS), behauptet, bislang hätten lediglich indirekte Gespräche stattgefunden. Dem entgegen hatte der israelische Sicherheitsberater Zachi Hanegbi am 24. Juni erklärt, man stehe in »direktem täglichen Kontakt«. In einem Gespräch mit der Zeitung Israel Hajom gab er an, persönlich Gespräche »auf allen Ebenen« mit politischen Beamten in Damaskus zu führen. Syrien und Libanon würden für eine künftige Aufnahme in die sogenannten Abraham-Abkommen in Betracht gezogen, die von US-Präsident Donald Trump in seiner ersten Amtszeit zwischen Tel Aviv und den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain, Marokko sowie dem Sudan vermittelt worden waren.

Israelischen Medienberichten zufolge soll gar am Rande der für diese Woche angesetzten UN-Generalversammlung ein Treffen zwischen Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Al-Dscholani in Planung sein. Ende Mai hatte letzterer im Interview mit dem Jewish Journal erklärt, Syrien und Israel hätten »gemeinsame Feinde«. Damit sind offenbar nicht nur der Iran und die libanesische Hisbollah gemeint: Auch gegen palästinensische Gruppen gehen Einheiten der syrischen Regierung vehement vor, verhaften deren Anführer oder weisen sie aus und zerschlagen ihre militärischen Kapazitäten und finanziellen Ressourcen.

Am Freitag hat der wie Al-Dscholani der HTS entstammende und für seine Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen bekannte syrische Außenminister Asaad Al-Schaibani im Gespräch mit US-Außenminister Marco Rubio sein Bestreben bekundet, in Kooperation mit Washington zum israelisch-syrischen Truppenabzugsabkommen von 1974 zurückzukehren. Vergangene Woche berichtete der libanesische Nachrichtensender LBCI, die HTS-Regierung habe ihre Bereitschaft kundgetan, auf die von Israel im Krieg von 1967 besetzten und später annektierten Golanhöhen zu verzichten. Dass die Regierung Assad die Golanhöhen in Einklang mit dem Völkerrecht als rote Linie bezeichnete, war einer der Gründe für den 2011 begonnenen, von westlichen Staaten, den Golfstaaten, der Türkei und Israel befeuerten Regimechangekrieg gegen Syrien. Israel unterstützte in diesem Kontext radikal-dschihadistische Milizen, die die Bevölkerung terrorisierten, finanziell, mit Waffen und der medizinischen Versorgung ihrer verletzten Kämpfer – darunter auch die Nusra-Front, die Vorgängerorganisation der HTS.

Die westlichen Staaten, die jahrelang vorgaben, in Syrien gegen Kopfabschneiderbanden wie den »Islamischen Staat« (IS) zu kämpfen, hofieren die HTS-Terroristen seit ihrer Machtübernahme ganz offen. Gerade erst am Sonnabend hat die britische Regierung erklärt, wieder offiziell diplomatische Beziehungen zu Syrien aufzunehmen. Vergangene Woche haben die USA, die in Kooperation mit den kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräften den Nordosten des Landes besetzen und von dort unter Assad syrisches Erdöl und syrischen Weizen in den Irak schafften, die Syrien-Sanktionen fast komplett aufgehoben.

Während Israel seine Besatzung auf syrischem Territorium im Süden bis nach Damaskus ausdehnt und die USA den Nordosten besetzen, ist türkisches Militär im Nordwesten seit 2016 stationiert und bildet dort die inzwischen in die Sicherheitskräfte integrierten dschihadistischen Milizen aus. Wie die Nachrichtenagentur Reuters Anfang Juni berichtete, hat auch Washington dem Plan der syrischen Regierung zugestimmt, Tausende Kämpfer solcher Milizen, darunter eine Vielzahl Nicht-Syrer, in die Armee aufzunehmen. Darüber bestehe eine »transparente Übereinkunft«, sagt der Gesandte von Präsident Trump, Thomas Barrack. Zehntausende radikale ausländische Kämpfer waren 2011 und in den Folgejahren nach Syrien in den »Dschihad« gezogen – unter den Augen und mit dem stillschweigenden Einverständnis auch westlicher Regierungen.

Unter diesen Kämpfern befinden sich auch viele Uiguren aus China und Zentralasien, die meisten von ihnen sind Mitglieder der Turkistan Islamic Party. Nach der Einnahme von Idlib im Jahr 2015 vertrieben sie Christen und andere Minderheiten und besetzten deren Häuser. Bereits im Dezember, kurz nach der Machtübernahme, besetzte Al-Dscholani Spitzenpositionen des Verteidigungsministeriums mit prominenten ausländischen Milizionären und verlieh ihnen die syrische Staatsbürgerschaft.

Rückzug vom Abzug

Entgegen der mehrfach wiederholten Ankündigung Washingtons, einen Abzug der US-amerikanischen Besatzungstruppen aus Syrien vorzubereiten, hat die US-Armee ihre militärische Präsenz im Juni verstärkt. Mehr als 100 Lastwagen mit militärischer und logistischer Unterstützung wurden aus den US-Militärbasen im Irak zu den Stützpunkten in Syrien entsandt. Auf den Lkws befanden sich Berichten zufolge Treibstoff, Lebensmittel, Wasser und versiegelte Container, die vermutlich Waffen und Munition enthielten. Ihr Ziel: die Militärstützpunkte in Khrab Al-Jeer, Qasrak und Al-Schaddadi in der Provinz Hasaka.

Gegenüber dem Nachrichtensender Schafaq erklärte eine Quelle aus den kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräften (englisch: Syrian Democratic Forces, SDF), man arbeite weiterhin aktiv mit den US-amerikanischen Streitkräften in den kurdisch kontrollierten Gebieten im Nordosten Syriens zusammen. »In Abstimmung mit den SDF« überwache »die Koalition« weiterhin IS-Zellen, die versuchten, sich neu zu organisieren. Man führe gemeinsame Operationen durch, so etwa Verhaftungen von IS-Mitgliedern.

Westliche und regionale Geheimdienste hatten zuvor gewarnt, sowohl im Irak als auch in Syrien könnte der IS erneut erstarken. Gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters sollen mehr als 20 Beamte und Diplomaten erklärt haben, die Gruppe reaktiviere in beiden Ländern Kämpfer, verteile Waffen und identifiziere Ziele. Zudem habe der IS seine Rekrutierungsbemühungen intensiviert.

Seit 2016 »legitimieren« die USA ihre völkerrechtswidrige Besatzung in Syrien und ihre fortdauernde Stationierung im Irak – obwohl das dortige Parlament bereits Anfang 2020 einstimmig beschlossen hatte, die US-Armee und alle anderen ausländischen Soldaten sollten das Land verlassen – mit ihrem angeblichen Kampf gegen den IS. Tatsächliches Ziel war der Sturz der Regierung Assad, wofür man radikale Kräfte unterstützt hat. (wd)

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