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Aus: Ausgabe vom 03.07.2025, Seite 10 / Feuilleton
Kommunismus

Lernend lehren

Die Kommunistin und Antifaschistin Erika Baum wird 100 Jahre alt
Von Arnold Schölzel
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»Die Massen lernen nicht aus den Büchern, sie lernen aus ihren eigenen Erfahrungen. Sie lernen aus Erfahrungen, die sie in Aktionen erleben« – Aktivistin Erika Baum

In »Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte« bemerkt Marx, die soziale, also die proletarische Revolution des neunzehnten Jahrhunderts könne »ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muss die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eignen Inhalt anzukommen. Dort ging die Phrase über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phrase hinaus.« Die entstehende Arbeiterklasse, so lässt sich das verstehen, muss die von ihr getragene reale weltgeschichtliche Bewegung hin zu sozialer Revolution und Sozialismus ständig neu begreifen lernen, in dauernder Selbstverständigung. Die ständige rücksichtslose Selbstreflexion, ausgerichtet an der Eroberung der Macht und dem Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung, ist einer ihrer Wesenszüge.

Die Arbeiterbewegung als stets lernend zu sehen und die wirkliche, nicht nur die ideologische Dialektik des Klassenkampfes historisch-materialistisch zu durchdringen, das ist, was die große Kommunistin und Antifaschistin Erika Baum ihre ungezählten Hörer und Schüler, zu denen ich mich zähle, gelehrt hat. Kommunist sein, heißt in diesem Sinn, auch in Zeiten, in denen sich die Klassengegensätze scheinbar nicht so zuspitzen wie gegenwärtig, ständig neu lernend zu lehren und lehrend zu lernen – die Arbeiterpartei und die Massen. Auch im Sozialismus. In ihren eigenen Worten auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz 2010: »Ich werde keinen Vortrag halten, um große Weisheiten zu verkünden. Die habe ich nicht. Ich möchte einige Überlegungen vorstellen, die sich aus meiner Tätigkeit in der Vergangenheit und in der Gegenwart ergeben, will also vom Lernen reden, das wir gegenwärtig dringend brauchen, davon, dass wir lernend nutzen müssen, was wir uns bisher schon an Theorie erarbeitet haben.« Konkret ging es ihr damals um die Frage, warum wir – und mit »wir« sind bei Erika Baum die Kommunisten und ihre Partei gemeint – »in einer Zeit ungeheurer Angriffe unserer Feinde« noch keinen Widerstand organisiert haben.

Klar, das sind Leninsche Fragen und Maximen, denen sie folgt: »Lenin hat mal gesagt, es habe eine Zeit gegeben, in der man über die Diktatur des Proletariats allgemein propagandistisch aufklären musste. Dann habe es eine Zeit gegeben, in der man agitatorisch zu ihr Stellung nehmen musste. Und dann eine Zeit, in der sie zu einer Aktionsaufgabe wurde. Ich meine: Wenn man Widerstand organisieren will, muss man diese Fragen untersuchen. Was müssen wir propagandistisch klären? Was sind Fragen, die für die Aktion auf der Tagesordnung stehen?« Zur Aktion zu kommen, das ist das erste Ziel: »Die Massen lernen nicht aus den Büchern, sie lernen aus ihren eigenen Erfahrungen. Sie lernen aus Erfahrungen, die sie in Aktionen erleben. Deswegen ist es sehr wichtig, zu diesen Aktionen zu kommen.«

Das Zitierte besagt: Wo Erika Baum ist, da ist die Partei Lenins – den Klassenkampf analysierend, den Bewusstseinsstand der Massen zur Kenntnis nehmend und um Verbreitung von Klassenbewusstsein ringend, wo so oft keines vorhanden ist. Und zu ihren Erfahrungen zählt die, an der Seite sowjetischer Klassengenossen und mit ihrer Hilfe 1945 die Macht im Staat zu übernehmen: Bodenreform, Brechung des Bildungsprivilegs, Entfernung von Nazis aus der Justiz, das heißt, Revolution machen, statt zu reden.

Erika Jakl wurde 1925 in Wien geboren, der Vater war Werkzeugmacher, die Mutter Druckereiarbeiterin. Sie brachten Widerstandskämpfer bei sich unter, verteilten Flugblätter. 1945 siedelte Erika um nach Berlin, in den sowjetischen Sektor, studierte Gesellschaftswissenschaften, heiratete den KPD-Genossen Bruno Baum (1910–1971), der gemeinsam mit Erich Honecker 1937 vom Volksgerichtshof verurteilt worden und Gefangener im Zuchthaus Brandenburg, in den Konzentrationslagern Auschwitz und Mauthausen gewesen war. Sie trat der KPD, 1946 der SED bei, unterrichete an Schulen, an einer Arbeiter- und Bauernfakultät und schließlich an der Humboldt-Universität – um eine neue sozialistische Intelligenz zu bilden. Im Grunde setzte sie diese Arbeit nach der Konterrevolution in der DKP erst recht fort.

Ewige Weisheiten hatte sie nie zu verkünden, sondern lehrte Dialektik auf unnachahmliche Weise – und gab mehreren Generationen junger Marxisten mit auf den Weg: Ihr müsst die realen Widersprüche der Klassenkämpfe, in denen die Partei steht, erfassen und praktisch bewältigen. Dabei sind subjektive Fehler immer möglich, aber nicht entscheidend, unversöhnlich sind wir nur gegenüber den Feinden der Arbeiterbewegung. An diesem Donnerstag wird Erika Baum 100 Jahre alt. Herzliche Gratulation und größte Hochachtung!

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