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Aus: Ausgabe vom 01.07.2025, Seite 10 / Feuilleton
Ballett

Ich schwöre, ich kann die Welt retten

Einander stützen: Der tolle philosophische Ballettabend »Vice Versa« des Semperoper-Ballett in Dresden
Von Gisela Sonnenburg
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Geschmeidig finden sie zusammen (»Noetic«)

Es kann so erfrischend sein, sich getäuscht zu haben. Wer vom neuen Dresdner Ballettdirektor Kinsun Chan befürchtete, er werde sich verheben – ich gestehe, ich gehörte dazu – darf sich freuen: Man hat sich geirrt. Seine erste Spielzeit im Elbflorenz meisterte der junge schweizerisch-kanadische Choreograph und Programmacher mit Bravour. Außer seiner eigenen Revue im grotesken Stil (»Wonderful World«) zog Chan wahre Brummer der Ballettwelt an Land und sorgte dafür, dass sie tänzerisch und bühnentechnisch famos umgesetzt werden.

So ist »Nijinsky« von John Neumeier, dirigiert von Simon Hewett, ehemals Erster Ballettdirigent in Hamburg, der neue Knüller im Dresdner Repertoire. Am Sonnabend kam mit dem zweiteiligen Abend »Vice Versa« eine ganz andere, sehr moderne, auch tiefsinnige Note ins Semperoper-Ballett. Es handelt sich, wenn man so will, um Tanz für den Kopf: Die Stücke »Noetic« und »November« verbinden Naturerfahrungen des Menschen mit Philosophie.

Starchoreograph Sidi Larbi Cherkaoui, flämisch-marokkanisch geprägter Belgier und derzeit Ballettdirektor in Genf, hat mit »Noetic« schon 2014 ein Werk geschaffen, das zwischen bildender Kunst und Ballett pendelt. Einerseits gibt es satten Tanz zu sehen, nicht selten im gediegen-ästhetischen Stil von David Dawson oder auch als Anklang an die besten Momente bei Sasha Waltz. Geschmeidig finden sich Soli, Kleingruppen- und Paartänze zu einem Kanon des Miteinanders. Andererseits sind Bühnenrequisiten hier wichtig – dazu später mehr.

Zu Beginn ist es eine reine Männerwelt, in die Cherkaoui uns entführt. Die Herren tragen ein schickes Bürooutfit: die Weste passend zur Hose, Hemd mit Krawatte. In Soli zeigen sie ihre Qual in der Arbeitswelt und dem Rest ihres unterdrückten Daseins. Aber als Kollegenteam blühen sie auf, helfen einander zu Turmbauten, stützen einander in Balanceposen.

Die Damen in modischen schwarzen Latexglockenröcken sind schlichtweg bezaubernd. Aber auch in ihrem Lager wird mit der Welt, wie sie ist, gehadert. Mal barfuß, mal in High Heels, entwickeln sich Soli und Triogruppen, zart und rebellisch zugleich.

Das Besondere hier ist das Spiel mit langen metallischen Latten, die an elastische Fußleisten erinnern, sie stammen vom britischen Bildhauer Antony Gormley. Cherkaoui lässt seine 19 Tänzer damit die Bühnenwelt vermessen, Bögen und schließlich einen Globus formen, dann sogar ein übergroßes Atom. Ein Tänzer stellt sich hinein und schwört mit zwei Fingern – ja, was? Dass er die Welt zu retten vermag.

Hoffnung stiftet auch die Musik von Szymon Brzóska. Samtweich aufspielende Violinen und ein markantes Schlagzeug, dazu das asiatische Saiteninstrument Kokyu und viel Eleganz von der Querflöte, gekrönt von der Sopranistin Miriam Andersén, die auf der Bühne steht und mit lateinischen Gesängen Teil des Spiels ist, ein Genuss für sich.

Schließlich dürfen die Tänzer wie bei Pina Bausch sprechen, auf deutsch und englisch. Die Texte sind sanfte Provokationen, widersinnig und absurd täuschen sie Pseudowissenschaft an. Der Mensch muss sich fragen, was er will und wozu er noch in der Lage ist. Der Titel »Noetic«, der auf einen philosophischen Terminus verweist, wird eingelöst: Es geht um eine Verbindung von Intuition und Verstand.

Dazu passt die Uraufführung des Abends: »November« des Geschwisterpaares Imre und Marne van Opstal. Protagonist ist der Wind, der unablässig den silberblauen Vorhang im Hintergrund der Bühne bewegt. Eine Mondnacht mit Gewitter über einer Horde Urmenschen: 32 Tänzerinnen und Tänzer recken und strecken, heben und drehen sich. Am Ende aber geht es um Adam und Eva, die sich hier in aller Ruhe trennen.

Die Musik von Arvo Pärt stimmt ebenfalls lunarisch, mit köstlichen Bläserpassagen, vor allem des Horns. Dirigentin Charlotte Politi führt die Sächsische Staatskapelle Dresden sicher durch den Abend, mit grandios anschwellenden Spannungen in den Melodiebögen. Ein rundum gelungener Abend.

Nächste Vorstellungen: 1. (Dresden-Tag), 4. und 6. Juli 2025

semperoper.de

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