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Mimese

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Mimese, wie die moderne Biologie sie erforscht, zeigt Überraschendes. Wenn zum Beispiel eine nicht giftige Schlange eine giftige nachahmt: Was passiert da eigentlich? Der Kulturwissenschaftler Peter Berz erwähnt in einem seiner biologischen Vorträge den Entomologen Paul Vignon. Der studierte Laubheuschrecken und hat nachgezeichnet, an welchen Punkten sich die Heuschrecken von ihrem Vorbild lösen und selbständige Formen entwerfen – bis er ihnen schließlich »eine Mission der Kunst oder der Wissenschaft« zuschreiben mochte. Diese Mission, die sich etwa auch bei allokryptischen Krebsen, Gottesanbeterinnen, Buckelzikaden oder Laternenkäfern finden lässt, hat laut Vignon in den Laubheuschrecken ihre vornehmsten Botschafter. Er nennt sie »Heuschrecken der Kunst«.

Der Biologe argumentiert ähnlich wie der Soziologe Roger Caillois in »Méduse & Cie« (2007). Caillois löst die Mimesis von ihrer darwinistischen Verklammerung mit der »Nützlichkeit« – und begreift sie statt dessen als ästhetische Praxis: Caillois interpretiert die falschen Augen auf den Flügeln von Schmetterlingen und Käfern als »magische Praktiken«, die abschrecken und Furcht erregen sollen. Und die Mimese im Ganzen als tierisches Pendant zur menschlichen Mode, die man gleichfalls als eine »Maske« bezeichnen könnte – die freilich eher anziehend als abschreckend wirken soll. Wobei das Übernehmen einer Mode »auf einer undurchsichtigen Ansteckung gründet« und sowohl das Verschwindenwollen (in der Masse) wie auch den gegenteiligen Wunsch verkörpert, nämlich in der Masse aufzufallen.

Ähnliches geschieht bei der sexuellen Selektion (»Survival of the Prettiest«). Der Literaturwissenschaftler Winfried Menninghaus entwirft in »Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin« (2011) eine neue Soziobiologie, indem er etwa einen Bogen vom Rad schlagenden Pfau zu bunt bemalten Körpern der Neandertaler schlägt. In einer Rezension des Buches heißt es: »Menninghaus erwähnt den Trojanischen Krieg, wenn es darum geht, dass Tiere in blutigen Kämpfen um Weibchen konkurrieren, die dann ihre Wahl treffen.«

Laut dem Biologen Adolf Portmann brachte indes vor allem »die Beobachtung keinerlei einwandfreie Beweise für eine Wahl seitens der Weibchen«. Darwin und zahlreiche andere Biologen haben anscheinend zu »rasch verallgemeinert«, wobei er »begreiflicherweise besonders beeindruckt war von Vögeln mit starkem Sexualdimorphismus« zwischen Männchen und Weibchen.

»Doch gerade mit den imposantesten Beispielen dieser Art, dem Pfau und dem Argusfasan, hatte er Pech: Hier gibt es keinerlei Wahl durch die Weibchen«, schreibt der Tierpsychologe Heini Hediger. Ähnlich sieht es bei Paradiesvögeln, Webervögeln und Seidenstaren aus, die mitunter »ganz für sich allein balzen«. Kampfläufer hingegen, die Hediger ebenfalls erwähnt, balzen zwar in Gruppen, doch sind die »spektakulären Kämpfe« der Männchen »harmlose Spiegelfechtereien«, auch nehmen die Weibchen keinerlei Notiz davon. Ihr Erforscher G. Dennler de la Tour beobachtete, dass es antidarwinistisch der im Duell unterlegene Kampfläufer ist, der, sobald er sich erholt hat, zu den Weibchen geht und sie nacheinander begattet, während die Sieger davonfliegen.

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