»Ich kann keinen progressiven Ausweg erkennen«
Von Alexander Charlamenko
In der Juliausgabe der Onlinetextsammlung »Russland intern« der Marxistischen Blätter erscheint ein von Gudrun Havemann am 8. und 9. Mai 2025 geführtes und übersetztes Interview mit Alexander Charlamenko. Bereits seit 30 Jahren befragt sie den in Moskau lebenden Historiker zu den jeweiligen Verschiebungen von Kräfteverhältnissen in der »neuen Weltunordnung«.¹ Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion der Marxistischen Blätter veröffentlichen wir hier eine stark gekürzte Fassung des Gesprächs. Das ungekürzte Interview wird auf der Webseite www.marxistische-blaetter.de veröffentlicht. (jW)
Unter europäischen Linken und einem Teil der Linksliberalen, zumindest bei denen, die heute nicht nur die Opfer-, sondern auch die Stellvertreterrolle der Ukraine erkennen können, scheint die Sicht vorzuherrschen, dass es sich beim völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine um einen zwischenimperialistischen Krieg handelt. Die Vorstellung von »Putins Imperialismus« scheint vielen plausibel.
Ja, für viele drängt sich offensichtlich eine Analogie zu imperialistischen Kriegen der Vergangenheit auf, als würden wir es erneut mit dem Jahr 1914 zu tun haben, also unverändert mit einem Kampf zwischen imperialistischen Großmächten um Vorherrschaft in der Welt. Der heutige Imperialismus besteht aber nicht aus einer Vielzahl gegeneinander kämpfender Einzelmächte, sondern ist schon lange ein globales hierarchisches System, angeführt von den USA, nicht als Einzelstaat, sondern als Residenz und, gestützt auf die NATO, militärische Stoßkraft des weltweit agierenden und herrschenden transnationalen Kapitals. Natürlich gibt es auch heute zwischenimperialistische Widersprüche, doch sind sie von vollkommen anderer Art als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aus meiner Sicht haben die im wirtschaftlichen Aufstieg befindlichen Länder, insbesondere die BRICS-Staaten, nicht die geringste realistische Chance, mit diesem globalen Komplex imperialistischer Suprametropolen in einen erfolgreichen Kampf um weltweite Hegemonie zu treten oder ihnen als Rivalen gar irgendwie gefährlich zu werden. Es handelt sich bei diesen Ländern um subimperialistische Länder. Es gab sie auch in früheren Zeiten, sozusagen als sekundäre historische Stufen bzw. Glieder der sich herausbildenden Hierarchie.
Im Unterschied zu anderen subimperialistischen Ländern blieben vor allem in Russland und in China bis heute Relikte der antiimperialistischen Revolution des 20. Jahrhunderts bewahrt – in unterschiedlichem Maße, mehr in China, weniger in Russland. Und gerade deswegen lassen sie sich überhaupt nicht organisch in jene Hierarchie einfügen. Dabei geht es um viel mehr als um die »übliche« zwischenimperialistische Rivalität zwecks Herrschaft über bestimmte Territorien, um Export von Kapital, Rohstoffressourcen usw. Diese Staaten rufen allein aufgrund ihrer Existenz als relativ souveräne und zugleich als im Erbe der weltweiten antiimperialistischen Revolution des 20. Jahrhunderts verwurzelte Länder die Feindseligkeit der gesamten imperialistischen Welt hervor, insbesondere seitens der Ultrarechten dieser Welt, und zwar ungeachtet aller Bestrebungen der Leader dieser Länder, zum Beispiel der russischen, zur globalen Elite gehören zu wollen. (…)
Leute wie Putin werden heute so ähnlich wahrgenommen, wie einst Napoleon vom bürgerlich-aristokratischen England und den absolutistischen Staaten des übrigen Europas, der ihnen als »Robespierre zu Pferde« und Ausgeburt der Französischen Revolution galt, obwohl Napoleon bekanntlich dieser Revolution gegenüber überaus feindlich eingestellt war; er fürchtete sie und versuchte alles, was von ihr übriggeblieben war, zu tilgen. Ungeachtet dessen zählten ihn die damaligen europäischen konservativen Ordnungsmächte nicht zu den Ihren, er blieb ihnen zutiefst fremd, ein Feind. (…) Ganz analog werden gegenwärtig Russland und China durch Vertreter des echten, global organisierten Imperialismus wahrgenommen. Schon daher stellen Versuche, dessen feindseligen Konfrontationskurs zurückzuweisen bzw. Gegenschläge auszuteilen, aus meiner Sicht Versuche der Selbstverteidigung, Versuche dieser Regimes dar, in feindlicher Bedrängnis zu überleben, nicht aber Expansionsbestrebungen nach dem Vorbild Hitlers oder Napoleons. Doch besitzen sie nicht die geringste Chance, dabei irgendwelche ernsthaften Erfolge im Sinne von weltweiter Hegemonie, ja auch nur regionaler Hegemonie zu erzielen. Das Maximum, was das von Putin geführte Russland am Ende erreichen könnte, wäre, einen Teil von »Noworossija« einzunehmen; auf mehr erheben sie selbst schon gar keinen Anspruch mehr. Jedenfalls handelt es sich um Bestrebungen völlig anderen Charakters, als es die globalen Hegemonialabsichten des US- und NATO-Imperialismus kennzeichnet. Im Grunde handelt es sich um einen Abwehrkampf gegen diesen. Allein dadurch aber lässt sich der Umstand erklären, dass dem gegenwärtigen russischen Regime, einem antisowjetischen, antikommunistischem Regime, mit dem im Westen rechte und ultrarechte Kräfte sympathisieren, derzeit sämtliche antiimperialistischen Kräfte der Welt zulaufen – ob Kuba, Venezuela, Nicaragua, Nordkorea usw. Russland trägt in sich »genetisch« noch das Erbe der Sowjetepoche, ob nun gewollt oder ungewollt (bekanntlich wollen das seine Führer überhaupt nicht), das ist einfach Tatsache. (…)
War denn gar nicht vorhersehbar, was nach dem Februar 2022 folgen würde?
So etwas in seiner ganzen Komplexität vorherzusehen bzw. zunächst überhaupt den ganzen Umfang der wechselwirkenden Faktoren und Einflüsse zu erfassen und womöglich andere Entscheidungen zu fällen, ohne einen Krieg zu beginnen, war wohl von einer bürgerlichen Regierung kaum zu erwarten. Bekanntlich waren auch im Jahre 1914 die Entscheidungsträger aller Seiten so sehr in die Lösung ihrer konjunkturellen Nahprobleme vertieft, darunter auch der Rettung ihrer innenpolitischen Positionen in einer heranreifenden gesamtnationalen Krise, dass niemand imstande war, verantwortlich vorauszudenken. So auch heute wieder. (…) Die Folgen des Konflikts fallen insgesamt mehrheitlich natürlich negativ aus und gehen weit über den Rahmen der russisch-ukrainischen Beziehungen hinaus, auch weit über Europa. Es geht ja nicht nur um die Erweiterung der NATO, die Aufnahme von Finnland, Schweden usw. Vielmehr wird damit endgültig das Nachkriegssystem des Völkerrechts und auch einer gewissen internationalen Moral, wenn davon noch die Rede sein konnte, zerstört. Dieses System war auch zuvor schon brüchig geworden, vor allem aufgrund des Verhaltens von Washington, das es längst mehr oder weniger feierlich über den Haufen geworfen hatte. Immerhin funktionierte es aber irgendwie noch in formaler Hinsicht, wenn auch zunehmend schlechter, im Rahmen der UN-Charta. Niemand hatte sich bis dato offen dazu entschieden, bestehende Grenzen zu ignorieren, und wenn es doch jemand tat, wie beispielsweise Israel, wurde das international zumindest kritisiert. Nun aber sind sämtliche Tabus gefallen. (…)
Die Ignoranz gegenüber dem Völkerrecht zeigt sich aber auch in folgendem: Alle reden von der völkerrechtswidrigen Aggression und Grenzverletzung durch Russland. Die Grenzen Nachkriegseuropas wurden völkerrechtlich bekanntlich erst am 1. August 1975 in der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Helsinki fixiert. Diese wurde noch von der UdSSR unterzeichnet. Völkerrechtlich auf diese Weise fixiert sind folglich nur die Grenzen der Sowjetunion, wie auch die von Rumänien oder Jugoslawien, nicht aber die Grenzen der Staaten, die nach deren Auflösung entstanden waren. Zumindest lässt sich aus diesem Umstand schließen, dass die Grenzen der später entstandenen Einzelstaaten als Völkerrechtssubjekte nicht auf dieselbe Weise fixiert wurden wie die Grenzen der Sowjetunion. Natürlich hatte seinerzeit Russland selbst seine Loslösung von der Sowjetunion proklamiert und de facto die Grenzen der Nachfolgestaaten anerkannt, doch dass es sich bei ihnen weiterhin um seine Interessensphäre handeln musste, und zwar nicht im imperialistischen, sondern im rein völkerrechtlichen Sinn, sollte politisch schon berücksichtigt werden. Die NATO hätte nie in diese Gebiete einrücken dürfen. Sie ist aber eingerückt, schon vor vielen Jahren, als die baltischen Republiken ihrem Wunsch gemäß und ganz selbstbestimmt ins Bündnis aufgenommen wurden. Daraus lässt sich aber wenigstens mit derselben Berechtigung folgern, dass die russischsprachige Bevölkerung »Noworossijas« ebenfalls ein solches Selbstbestimmungsrecht besitzt. Doch wen interessiert heute noch der Rechts- oder Völkerrechtsaspekt. Das ist alles sehr bedauerlich und inzwischen eine so komplexe Gemengelage, aus der ich derzeit keinen progressiven Ausweg erkennen kann. Leider.
Was ich nur feststelle, ist mein Unverständnis gegenüber der Position der westeuropäischen Länder. Wie immer man auch auf das Geschehen blickt – worauf hoffen sie, wenn sogar die USA aufgehört haben, diejenige Linie bedingungslos zu unterstützen, die sie zuvor ihren NATO-Bündnispartnern selbst aufgezwungen hatten? Worauf warten sie, wenn sogar die USA anfangen, mit Russland zu verhandeln – abgesehen davon, dass noch unklar ist, wohin das führt – doch müssten die westeuropäischen Länder gerade deswegen selbst ohne weiteren Zeitverlust die Initiative zu eigenen analogen Verhandlungen ergreifen. Dazu hatten sich als Vermittler seit längerem mehrere Staaten angeboten: China, Brasilien, Südafrika. Möglichkeiten dazu gibt es. Statt dessen sind gewisse infantile Verlautbarungen zu hören vom Kampf bis zum siegreichen Ende, von der Aufrüstung Europas, von einer eigenen europäischen Armee – all das ist schwer nachvollziehbar.
Und was ist von gewissen Hoffnungen auf Trump als »Dealmaker« für ein Kriegsende zu halten?
Das ist sogar der mich am meisten alarmierende Aspekt. Bei diesen Deals könnte es zu politischen Zugeständnissen kommen, die für unsere wirklichen Bündnispartner und Freunde tödlich und auch für Russland extrem negativ ausfallen würden. Das befürchte ich.
Bisher ist es dazu noch nicht gekommen, mit einer Ausnahme: Verdächtig war für mich von Beginn an in diesem Zusammenhang, was Ende vergangenen Jahres in Syrien geschah. Dort befanden sich russische Militärbasen – seinerzeit hatte Russland die wichtigste Rolle bei der Zerschlagung des extremistischsten Flügels der islamischen Fundamentalisten in Syrien, des IS, übernommen. Als aber ein anderer Flügel dieses islamischen Fundamentalismus seine Offensive auf Damaskus begann, gab es von russischer Seite her keinerlei Reaktion, mit Ausnahme der Aufnahme der geflohenen Assad-Familie. Das alles passierte nach dem Wahlsieg Trumps, vor seiner Inauguration und wohl darauf spekulierend, dass mit ihm Verhandlungen über die Ukraine beginnen könnten.
War das womöglich schon der Auftakt zu weiteren Zugeständnissen dieser Art? Ich habe keine Beweise dafür, aber die Sorge steht im Raum. Am meisten betrifft sie natürlich unsere lateinamerikanischen Freunde in Kuba, Venezuela und Nicaragua. Obwohl es noch keine klaren Symptome gibt, ist zu erwarten, dass Washington mit entsprechenden Forderungen herausrückt. Ob dann die russische Führung genügend Festigkeit, Prinzipientreue, Verantwortungsbewusstsein gegenüber den eigenen Verbündeten in der heutigen Welt an den Tag legen wird? Und sind die Positionen dieser Führung überhaupt fest genug innerhalb des Landes und innerhalb der herrschenden Klasse? Das alles wissen wir nicht.
Es kann einen jedenfalls nicht kaltlassen, wenn Trump ganz offen verkündet, dass es zu seinen Zielen gehört, Russland und China gegeneinander auszuspielen. Der wichtigste strategische Gegner der USA sei China, nicht Russland. Hier scheint jemand eine Situation wiederaufleben lassen zu wollen, wie sie durch das Anheizen des sowjetisch-chinesischen Konflikts in den 1960er und 1970er Jahren durch Washington schon einmal entstanden war. Dieser Konflikt spielte damals eine nicht unwesentliche Rolle beim Untergang der UdSSR, beim Zusammenbruch des sozialistischen Weltsystems. Würde das erneut versucht werden, würde Russland seinerseits zum Schlachtfeld zwischen China und dem US-geführten NATO-Block werden. Ein schrecklicheres Szenario kann es für unser Land nicht geben, davon bin ich überzeugt. Das wäre dann nicht ein Ukraine-Krieg, nicht ein Afghanistan-Krieg, sondern etwas weitaus Furchtbareres.
Eine Resthoffnung liegt natürlich noch beim Sieg der Vernunft. Die Anreise von Präsident Xi Jinping zum 9. Mai 2025 nach Moskau, die wegen des aktuellen Pakistan-Indien-Konflikts doch nicht abgesagt wurde, wie ich befürchtet hatte, sein Empfang auf höchster Ebene und die vertraulichen Verhandlungen mit Putin sind zumindest Grund für gebremsten Optimismus, dass Russland und China ihre Interessen miteinander ausbalancieren könnten und beide in einen Dialog mit Washington treten. Der ist absolut unverzichtbar, er muss gefunden werden, ein Ausweg kann nicht in weiterer militärischer Eskalation oder gar im Kreuzzug gegen die chinesische Bevölkerung gesucht werden.
Ein solcher Konflikt wie der jetzt zwischen Indien und Pakistan an der Südgrenze zu China ausgebrochene hat gerade noch gefehlt. Es gab dort früher immer wieder Spannungen und Terroranschläge, aber seitdem beide Staaten Atommächte geworden waren, noch nie einen so heftigen militärischen Zusammenstoß wie jetzt. Indien beantwortet einen Terroranschlag mit einem Raketenschlag gegen Pakistan, Pakistan droht als Antwort mit der Atombombe: Wenn man auf jeden Terrorakt so überreagieren würde, wäre die Welt schon längst in einem weltweiten Atomkrieg untergegangen. (…)

Warum tut sich Russland so schwer, sich auf einen 30tägigen Waffenstillstand einzulassen?
Ich denke, dass das nur zum fortgesetzten abwechselnden Bruch der Waffenruhe durch die eine oder andere Seite führen würde. Wir hörten in diesen Stunden, wie die ukrainische Seite aus Anlass des 9. Mai dazu anstachelt, einen nachhaltigen Schlag gegen Moskau zu führen. Selenskijs Drohungen, es während der Siegesfeier allen zeigen zu wollen und letztlich mit dieser ganzen dort zu erwartenden Führungsriege der Welt abzurechnen – immerhin versammeln sich dort ja keine ganz unbedeutenden Vertreter –, lassen eine rein terroristische Position erkennen. Niemand aber beschuldigt oder sanktioniert ihn wegen Förderung des internationalen Terrorismus, eigentlich merkwürdig.
Für einen Waffenstillstand jedenfalls wird eine Art minimal vorauszusetzendes wechselseitiges Vertrauen darauf benötigt, dass sich auch die andere Seite an die Vereinbarungen hält. Davon ist man heute weit entfernt, ich denke, deswegen lässt sich niemand darauf ein. Doch kennen wir weder die genauen Details und Umstände dieser Situation, noch wissen wir, welcher Art und welchen Ausmaßes die reale militärische Präsenz und Aktivität von NATO-Staaten in der Ukraine ist, in welchem Maße diese Kriegsmaschine überhaupt noch von Kiew beeinflusst wird. Daher gilt es eben, weniger mit Kiew, als mit den USA in Verhandlungen zu treten, so wie einst im Vietnamkrieg mit den USA selbst und nicht mit ihren Saigoner Marionetten verhandelt wurde. Das ist nicht erfreulich, aber so ist die Lage.
Für die USA selbst stand sicher stets das unmittelbare Ziel ihres ganzen Engagements im Mittelpunkt, sich die Europäische Union, die europäischen NATO-Partner vollständig gefügig zu machen, und das haben sie nahezu erreicht. Auch wenn Trump etwas von dieser Linie abzuweichen scheint, so möchte er doch ganz offensichtlich das bisherige Selbstverständnis der EU als eigenständiges politisches Subjekts endgültig brechen, erreichen, dass die Europäer sich den Verlust ihrer Eigenständigkeit eingestehen und sich vollständig dem Diktat der USA unterwerfen. (…)
In welchem Maße werden die diesjährigen Feierlichkeiten zum Tag des Sieges für die gegenwärtige Kriegspropaganda vereinnahmt? Wir sehen überall neben den schwarz-goldenen Sankt-Georgs-Bändern auch rote Fahnen. Das Hammer-und-Sichel-Symbol taucht vielerorts in der Stadt auf …
Hammer und Sichel werden heute längst nicht mehr wahrgenommen als kommunistisches Symbol, höchstens noch von einzelnen. Für die Mehrheit ist das nur eine Anspielung auf weit zurückliegende Zeiten. Die Sowjetunion wird zwar bis heute als Staat erinnert, der im Vaterländischen Krieg siegte, als einstige Supermacht, für die meisten durchaus auch als Quelle positiver Erinnerungen. Die Sowjetunion nach ihrer Destruktion aber vollständig zu rehabilitieren, konnte sich niemand entschließen, ganz zu schweigen von der Haltung zu Sozialismus und Kommunismus. Wird hingegen die heutige sowjetische Symbolik in Berlin, weil sie als prorussisch gilt, verboten, so wird aus meiner Sicht eine nazistische Interpretationsrichtung eingeschlagen: Der Sieg über den Faschismus soll nicht mehr anerkannt werden.
Natürlich wird die Sowjetsymbolik heute bewusst von linken oder nationalpatriotischen Bloggern verwendet, keineswegs aber von Regierungsseite, um damit, wie unterstellt, die »Spezialoperation« zu legitimieren. Im Gegenteil, unsere Machthaber versuchen eine strenge Balance einzuhalten zwischen rechter antikommunistischer und linker prosowjetischer Interpretation des Sieges. Sie nehmen weder die eine noch die andere Position ein, sondern sind peinlichst darauf bedacht, den Mittelweg zwischen ihnen nicht zu verlassen. Die Rechten haben ja bekanntlich ihre eigene Tradition des Kampfes gegen ukrainische Nationalisten, noch aus Bürgerkriegszeiten (…). Die Linken pflegen ihre gänzlich andere Tradition. Die heutigen russischen Führer aber vermeiden tunlichst die Erinnerung an die eine wie die andere Tradition. Auch wenn es uns, die wir mit sowjetischen Werten aufgewachsen sind, widerwärtig scheint, ist diese Haltung womöglich rational, weil sie ihnen die erstrebte politische Stabilität verschafft, die Abwesenheit einer inneren Opposition und innerer Erschütterungen. Darin besteht einer der Faktoren der Stabilität der gegenwärtigen Russischen Föderation im militärischen Konflikt. Das lässt sich sogar nachvollziehen, wenn man sich in ihre Position hineindenkt. Sie können weder die Rechten vor den Kopf stoßen (»spontan Rechte« machen heute einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung aus); noch können sie das Privatkapital verprellen, denn dessen Einbindung in das staatskapitalistische System ist ihnen sehr teuer. Sie wissen zugleich, dass ihnen von links keine ernstzunehmende Herausforderung droht, während das von rechts durchaus passieren kann. Und so schlingern sie auf neobonapartistischem Wege durch die Situation. Natürlich in einer anderen Epoche, mit einer anderen Basis als während des ersten oder zweiten französischen Imperiums. Doch innerhalb der Dynamik von Revolution, Konterrevolution und Postrevolution lässt sich das durchaus als Neobonapartismus bezeichnen.
»Alles für den Sieg« wird also in diesen Tagen gar nicht besonders akzentuiert: Wenn man sich in Moskau oder St. Petersburg umschaut, ist dort vom gegenwärtigen Kriegsgeschehen nichts zu spüren. Auch das ist in der Geschichte völlig beispiellos – nicht mal in den Vereinigten Staaten gab es das: Wenn sie Kriege jenseits der Ozeane führten, war das doch im Land stets zu bemerken. Hier aber ist es, als ob gar nichts geschehe. Genau dieser Eindruck wird tunlichst aufrechterhalten. Die Ideologie der Stabilität wurde wohl zum Selbstzweck erhoben, eine andere ideologische oder politische Perspektive wird gar nicht erst aufgemacht. Die Hoffnungen auf ein Einlenken des Westens jedenfalls waren völlig vergeblich, der Westen tickt anders und scheint seinen ideologischen Stereotypen aufgesessen. Irgendwie scheint man sich auch dort auf einen vergangenen Krieg vorbereiten zu wollen. (…)
Und deine abschließende Prognose – zum Ausgang aus der kriegerischen Sackgasse?
Mir scheint, dass die meisten politischen Führer in den Kategorien des Gestern befangen sind. Und das betrifft nicht nur Putin, womöglich selbst Präsident Xi Jinping. Wie die Realitäten des 21. Jahrhunderts beschaffen sind, scheint nicht wirklich die Grundlage ihrer Einschätzungen abzugeben. In einem seiner letzten Diktate (»Lieber weniger, aber besser«) formulierte Lenin seinerzeit folgende Idee: Der Ausgang des gegenwärtigen weltweiten Kampfes hänge von viel zu vielen Faktoren ab, als dass man ihn vorhersagen könnte. Nur eines stehe außer Frage: Russland, Indien, China und ihnen verwandte Länder stellen die gigantische Mehrheit der Erdbevölkerung dar. In diesem Sinne sei der Ausgang des weltweiten Kampfes in letzter Instanz vorherbestimmt.²
Irgendwie scheint sich in den Zusammenkünften der BRICS-Staaten ein entferntes Echo dieser Idee wiederzufinden. Doch stammt sie aus dem 20. Jahrhundert, aus einer weltumspannenden antiimperialistischen Revolutionsepoche, in der die Hegemonie des transnationalen Kapitals noch nicht endgültig besiegelt war. Kommt die Initiative zur Schaffung der BRICS im 21. Jahrhundert nicht etwas zu spät? Ohne den im 20. Jahrhundert noch revolutionären sozialistischen Machtpol und den antiimperialistischen Aufschwung in der übrigen Welt als Basis zu haben, dafür aber die totale Hegemonie des transnationalen Kapitals als Tatsache vor Augen? Ich sehe leider zur Zeit keine sozialen Kräfte, die wirklich eine reale fortschrittliche Alternative hervorzubringen imstande wären. Die Arbeiterbewegung ist in einem äußerst labilen, schwachen Zustand; im Massenbewusstsein herrschen spätkapitalistische Stereotype vor, auch bei den am meisten ausgebeuteten Bevölkerungskreisen. (…) Ich sehe zur Zeit einfach keine hinreichend organisierten sozialen Kräfte, die fähig wären, Massen zu mobilisieren, um etwas Neues einzuleiten.
Wann und wie der Krieg endet? Ich weiß es nicht. Das alles lässt sich dermaßen schwer analysieren und prognostizieren, weil es heute kaum objektive Informationen und de facto keinen legalen politischen Kampf mehr gibt. Alles spielt sich hinter den Kulissen ab. Welches wirkliche Kräfteverhältnis sich dahinter verbirgt, weiß heute niemand. Mit der Wirtschaft ist es ähnlich, es gilt genauso für die internationalen Beziehungen. Unter der unsichtbaren, scheinbar bewegungslosen Oberfläche kann sich aber etwas zusammenbrauen und plötzlich hervorbrechen, das niemand vorausgesehen hat. Eine höchst unsichere, instabile Gesamtsituation für die ganze Welt!
Anmerkungen
1 Vgl. unter anderem den gleichnamigen Artikel und Interviews dazu unter charlamenko-weltgeschichte.de, in denen der Autor frühzeitig vor der Ausbreitung einer faschistischen Diktatur auf die Ostukraine und die Krim, vor einem Rechtsruck in Russland und einem drohenden Weltkrieg warnte.
2 Vgl. W. I. Lenin: Werke, Bd. 33, S. 488
Alexander Charlamenko ist Doktor der Philosophie, Historiker, Politologe, Lateinamerikaexperte, Dozent an der Arbeiteruniversität »I. B. Chlebnikow«. Er lebt in Moskau.
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