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Aus: Ausgabe vom 01.07.2025, Seite 11 / Feuilleton
Jazz

Ein großes Geschenk

Eine andere Stimme: »E«, das Albumdebüt von Eliana Glass
Von Alexander Kasbohm
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Eine höhere Form von Wissen: Eliana Glass

Viele der besten Platten erwischen einen unerwartet, vor allem wenn das eigene Interesse gerade ganz woanders liegt. Gedanken zu solchen Platten sind auch schwierig in Worte zu fassen. Und man weiß auch noch nicht, was man in einem halben Jahr über sie denken wird. Dieser Zustand des Staunens, über die Musik wie über sich selbst, ist eines der großen Geschenke, die Kunst einem machen kann.

»E«, das Debütalbum der in Australien geborenen, in Boston aufgewachsenen und in New York lebenden Musikerin Eliana Glass, erwischte mich in einer Phase, in der mir zeitgenössische Songwriterinnen und Songwriter eher wenig sagten. Immer wieder die gleichen Stimmen, die in gleicher Intonation über ähnliche Songs von bestenfalls mittlerem Unterhaltungs- und Wiedererkennungswert von den gleichen Gefühlszuständen singen. Und dieser konturlose Quark wird dann von der Verwertungsindustrie als »sein/ihr vielleicht bislang persönlichstes Album« angepriesen.

Eliana Glass hat eine andere Stimme. Sie klingt älter als 27 Jahre, viel älter. Eine undefinierbare Erwachsenheit liegt in ihrer Stimme. Eine Erwachsenheit, die die meisten nie erreichen, die vermutlich niemand je erreicht. Die Stimme von Menschen, zu denen man in jedem Alter aufblickt, weil man das Gefühl hat, sie wüssten etwas, was man selbst nicht weiß. Irgendwann merkt man dann, dass Erwachsenheit generell eine Illusion ist, eine Fata Morgana, die man nie erreichen kann. Trotzdem gibt es Menschen, die eine höhere Form von Wissen oder Erkenntnis zu verkörpern scheinen. Diese Menschen geben Halt, selbst wenn man weiß, dass sie auch nicht mehr Ahnung haben als die anderen. Oder zumindest nicht mehr als man selbst.

Nina Simone wird zum Vergleich herangezogen. Auch Annette Peacock und Carla Bley, die sie beide covert. Das stimmt auch alles. Ich würde auch noch eine gründlich sedierte Joni Mitchell zu ihrer »Hejira«-Phase oder John Martyn hinzufügen, in der Art und Weise, wie sie ihre Stimme eher als weiteres Musikinstrument, als Klangquelle, denn als Vermittlerin von Worten verwendet. Wie Martyn zerdehnt und zernuschelt sie die Silben, formt sie wie Knetmasse. Aber der entscheidende Punkt ist, dass sie zugleich eben genau nicht wie die erkennbaren Vorbilder klingt, dass sie eine vollkommen eigene Form findet. »E« knüpft an Jazz der 40er, Songwriter der 70er an, doch die fluiden Songs sind in ihrer ständig in Bewegung scheinenden Form ganz eindeutig »jetzt«. Sie wirken instabil, nicht zerbrechlich, eher elastisch.

»E« ist sparsam instrumentiert, meist beschränkt sich die Begleitung auf Bass, Klavier und Schlagzeug. Sparsam ist das Album auch in dieser Hinsicht: Immer wieder werden Akkordfolgen wiederholt und variiert, was aber nicht zu einer Gleichförmigkeit oder sich ausbreitender Langeweile führt, sondern im Gegenteil die Unterschiede betont, den explorativen Charakter der Musik.

Glass schafft ein rhizomatisches Geflecht von Bezügen, die sie mit ebensolcher Neugierde zu erkunden scheint wie die emotionalen Eigenschaften und Möglichkeiten ihrer Musik. Ihre Stimme tastet sich vor, streckt sich ohne jede Eile, kostet die Nuancen aus. Es liegt darin etwas Unbekümmertes, das im Kontrast zu der fast weisen Anmutung ihrer Stimme steht.

Eliana Glass: »E« (Shelter Press)

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