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Aus: Ausgabe vom 28.06.2025, Seite 4 (Beilage) / Wochenendbeilage
Kolumbien

Feminismo Popular – Die widerständigen Bewohnerinnen Medellíns

Bei Con-Vivamos organisieren sich Frauen und Mädchen gegen patriarchale Gewalt, soziale Ungleichheit und die Folgen des bewaffneten Konflikts
Von Alexandra Scholz, Medellín
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Die Barrios Populares in Medellín: Errichtet von im bewaffneten Konflikt Vertriebenen

Hupende Autos und knatternde Motorroller drängen sich durch enge Gassen, während sich Menschenströme den Weg an ihnen vorbeisuchen. Die Barrios Populares sind in Kolumbien strukturell benachteiligte Viertel, die oft ohne staatliche Unterstützung entstanden sind. In ihnen leben viele Menschen, die im Zuge des seit 1964 andauernden bewaffneten Konflikts zwischen Guerillaorganisationen, der Armee und Paramilitärs vertrieben wurden. In Medellín ziehen sie sich die steilen Hänge rund um die Stadt hinauf und sind bekannt für Geschichten von Gewalt – aber auch für ihren starken Gemeinschaftssinn und ihre vielfältigen solidarischen Initiativen.

»Als ich in den 1990er und 2000er Jahren zur Schule ging, musste ich vor Kugeln weglaufen, weil die Schule zwischen den Territorien zweier Gangs lag. Meine Mutter verbarrikadierte unsere Fenster, wir konnten nicht mal auf den Balkon gehen«, berichtet Alejandra Ossa Lopera. Die 29jährige ist im Barrio Villa Guadalupe im Nordosten Medellíns aufgewachsen und kam mit 13 Jahren zu Con-Vivamos. Die Gemeinschaftsorganisation begleitet seit mehr als 30 Jahren Frauen und Mädchen als Ort kollektiver Heilung, feministischer Bildung und politischer Selbstermächtigung.

Die lokale NGO entstand Ende der 1980er Jahre im Barrio Villa Guadalupe. »Con-Vivamos« bedeutet übersetzt so viel wie »Lasst uns zusammenleben« – ein Aufruf, unter dem sich im Zuge von Volks- und Gemeindebewegungen zahlreiche Menschen in Gemeinschaftsinitiativen zusammenschlossen. Ziel war es, gemeinsam auf Missstände wie fehlende öffentliche Dienstleistungen, Armut, soziale Ausgrenzung und die zunehmende Gewalt zu reagieren. In den 1990er Jahren galt Medellín als eine der gewalttätigsten Städte der Welt – ein Schlachtfeld für Auseinandersetzungen zwischen Banden, Guerillas und paramilitärischen Gruppen, die besonders in den Barrios Populares um die Kontrolle kämpften. Gewerkschaftsführer sowie soziale und politische Persönlichkeiten waren häufig Zielscheiben der bewaffneten Gruppen. Im Jahr 1996 wurde Silvio Salazar, ein Gemeindeleiter von Con-Vivamos, vor der Tür der Organisation ermordet.

Heute gibt es weniger bewaffnete Kämpfe, doch die Konflikte sind nicht verschwunden: »Es gibt andere Formen der Einschüchterung und Kontrolle, bei denen nicht ständig geschossen wird«, erzählt Alejandra, »aber die Angst liegt immer noch in der Luft.« Die anhaltende Gewalt und Perspektivlosigkeit hinterlassen bei den jungen Menschen in den Barrios Spuren: »Viele Kinder haben keine Träume. Wenn man sie fragt, wünschen sie sich meist nur, dass es ihrer Familie gut geht und sie genug zu essen haben. Visionen für ihr eigenes Leben haben sie kaum.«

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Eine Tür zur Transformation: Bei Con-Vivamos lernen Frauen und Mädchen voneinander

Alejandra organisiert seit vielen Jahren Programme für Kinder und Jugendliche. Sie will ihre Erfahrungen weitergeben: »Wegen Con-Vivamos konnte ich von Möglichkeiten träumen, die über mein Viertel oder meine Familie hinausgehen. Wenn du von hier kommst, verändert sich, wer du bist und wie du die Welt siehst. Es ist, als würde sich eine Tür zur Transformation öffnen.« Aktuell leitet die Aktivistin die Gruppe Feministas Poderosas (mächtige Feministinnen), eine empowernde Gruppe für Mädchen, angelehnt an das Konzept des Feminismo Popular.

Feminismo Popular

Der Begriff entstand in den 1970er Jahren in Lateinamerika und ist in lokalen Kämpfen für Gleichberechtigung verwurzelt. Das Konzept wurde von Frauen in Armutssituationen geprägt, die feministische Ansätze aus einer Klassenperspektive neu interpretierten. »Für mich bedeutet Feminismo Popular die Möglichkeit, mich selbst als Frau aus einer Klassenperspektive heraus zu erkennen – als eine, die kämpft, arm ist und trotzdem ihre Integrität bewahrt«, erklärt Alejandra. Im Zentrum des Feminismo Popular steht die Überzeugung, dass der angestrebte gesellschaftliche Wandel nur in Zusammenarbeit mit der Bevölkerung erreicht werden kann. Die Psychologin Astrid Jeannette Goez Pérez, Teil der Kooperation Con-Vivamos, sagt: »Die Idee und das Ziel von Feminismo Popular ist, dass du nicht mehr bist als ich und ich nicht mehr bin als du. Der Abbau des Patriarchats wird als gemeinschaftlicher, zirkulärer Prozess verstanden.«

Jeannette lebt in einem benachbarten Barrio und engagiert sich ihr Leben lang für die psychosoziale Unterstützung von Frauen und Mädchen in ihrer Nachbarschaft. Sie ist aktiv in zahlreichen feministischen Netzwerken in der Stadt und leitet verschiedene Projekte zur Stärkung von Frauen und Mädchen. Gemeinsam mit vielen Bewohnerinnen und Mitarbeitern von Con-Vivamos hat sie das Centro Comunitario Mario Montoya aufgebaut – ein Gemeindezentrum im Herzen des Barrios: »Für uns ist das Centro Comunitario ein sicherer Ort inmitten der Unsicherheit, ein Raum, der es uns erlaubt, wir selbst zu sein, uns mit unserer Lebensgeschichte zu verbinden und gemeinsam zu heilen.«

Benannt ist das Zentrum nach dem Arzt Mario Montoya, der einst in der Nachbarschaft lebte und sein Haus nach seinem Tod Con-Vivamos vermachte. Motoya war dafür bekannt, Menschen kostenlos mit Heilkräutern aus seinem Garten zu behandeln – ein Garten, der bis heute blüht. Die Verbindung zur Natur prägt das Zentrum bis heute. »Die Arbeit mit Erde und Pflanzen ist therapeutisch«, erklärt Jeannette. »Gerade wir Frauen, die oft Sorgearbeit leisten, haben eine besondere Verbindung zur Erde. Wenn wir uns um sie kümmern, kümmern wir uns auch um unsere eigene Heilung.«

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Von einer solidarischen Initiative ermöglicht: Demetria vor ihrem Haus »Aquarium«

Das Gemeindezentrum schafft einen sicheren Raum, um gewaltsame Erfahrungen in Workshops, Einzelberatungen und durch gemeinsame Aktionen zu verarbeiten. Dies ist insbesondere für die Bewohnerinnen der Barrios sehr wichtig. »Frauen in den Barrios sind oft vielfältig benachteiligt«, erzählt Jeannette. »Viele haben keine feste Arbeit, sind finanziell abhängig von ihrem Partner oder arbeiten ohne Sicherheit. Zudem sind viele Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt und dem bewaffneten Konflikt.«

Die Stadt der Vertriebenen

Gewalt ist für viele Menschen in Kolumbien zu einem alltäglichen Bestandteil des Lebens geworden. Diesen Kreislauf zu durchbrechen, nennt Con-Vivamos die desnaturalización de la violencia (Entnaturalisierung der Gewalt) und betrachtet dies als eine zentrale Aufgabe, an der in verschiedenen Gruppen aktiv gearbeitet wird. Eine dieser Gruppen ist Esencia Femenina – eine feministische Initiative im Barrio Carpinelo 1, hoch oben in den Hügeln im Nordosten Medellíns. Der abgelegene Stadtteil ist kaum an die städtische Infrastruktur angebunden. Es fehlen grundlegende öffentliche Dienstleistungen, und selbst der Zugang zu Trinkwasser ist nicht gesichert. Die meisten Bewohner von Carpinelo 1 sind Vertriebene – ihre Geschichten stehen exemplarisch für eine Realität, die viele Stadtteile Medellíns geprägt hat.

Denn die Entstehung der Barrios Populares ist eng mit der Geschichte des bewaffneten Konflikts verbunden: Kolumbien gehört bis heute zu den Ländern mit der höchsten Zahl an Binnenvertriebenen weltweit. Ende 2023 zählte die UN-Flüchtlingshilfe rund 6,9 Millionen Menschen, die innerhalb des Landes auf der Flucht waren¹. Auf der Suche nach Sicherheit besiedelten die Vertriebenen die Peripherien der Städte und erweiterten sie oft mit eigenen Mitteln – ohne staatliche Planung oder Unterstützung. Zu ihnen gehört auch Rosa Noelia Ramírez, Teilnehmerin der Gruppe Esencia Femenina. Noelia wurde vor siebzehn Jahren von Guerillagruppen aus ihrem Heimatdorf vertrieben. »Sie gaben uns 24 Stunden Zeit, um unsere Sachen zu packen und das Haus zu verlassen«, erzählt sie. Heute lebt die 13fache Mutter mit ihren Kindern und Enkelkindern in Carpinelo 1 und organisiert gemeinsam mit Con-Vivamos die wöchentlichen Treffen von Esencia Femenina. »Die Gruppe hilft uns, die Augen zu öffnen und zu erkennen, dass man uns nicht schlecht behandeln darf.« Für sie und die anderen Teilnehmerinnen ist die Gruppe ein Ort der Vernetzung und des Austausches, um sich in der Gemeinschaft zu unterstützen. Bei den Treffen verhandeln sie Themen rund um Selbstliebe und Heilung und planen bei einem Kakao die nächsten Aktionen.

Solidarität statt Vereinzelung

In den Barrios existiert eine große Vielfalt an solidarischen Projekten und Praktiken. Sie entstehen häufig aus dem Mangel an staatlicher Unterstützung und entwickeln sich zu einem festen Bestandteil der kulturellen Identität der Viertel. Ein Beispiel für solche Praktiken sind Convites: »Die Gemeinschaft organisiert (in den Convites, jW) eigenständig etwas, wie den Bau einer Kirche, das Haus eines Nachbarn oder einer Nachbarin, einen Abwasserkanal oder einen Gemeinschaftsgarten«, erzählt Demetria Ibarguen Palomque, »die Menschen kommen zusammen, arbeiten gemeinsam und teilen Mahlzeiten. Es ist eine Form von Basisorganisation, bei der jeder mitmacht, unabhängig davon, wo er herkommt.«

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Schon früh engagiert: María gestaltet das Leben in ihrem Viertel mit

Demetria ist seit 29 Jahren Mitglied von Con-Vivamos und hat die Organisation maßgeblich mitgeprägt. Sie lebt in einem kleinen Haus im Barrio Villa Guadalupe, dem sogenannten Acuario (Aquarium). Es ist Teil eines Solidaritätsprojekts, das vertriebenen Menschen mit begrenzten finanziellen Mitteln Wohnraum bietet. Aufgewachsen ist die Afrokolumbianerin in der Region Chocó, die zwischen Kolumbiens Pazifik- und Karibikküste liegt. Der Chocó ist bekannt für seine vielfältige Biodiversität und reichen Bodenschätze und gilt zugleich als ärmste Region Kolumbiens – staatliche Investitionen bleiben aus, während bewaffnete Gruppen und wirtschaftliche Akteure um die Kontrolle des Gebiets kämpfen.

Die Mehrheit der Bevölkerung im Chocó gehört zur afrikanischen Diaspora oder zu indigenen Gemeinschaften. Struktureller Rassismus und neokoloniale Ausbeutung sind in Kolumbien tief verwurzelt. »Als ich nach Medellín kam, war ich die einzige schwarze Person in meiner Klasse an der Universität. Mein Lehrer war ein Rassist und hat mich immer wieder diskriminiert«, erzählt Demetria. »Seitdem hat sich viel verändert, aber auch heute begegne ich täglich Rassismus.« Ihr Engagement als Menschenrechtsverteidigerin gilt nicht nur den Frauenrechten, sondern auch dem Erhalt der afrokolumbianischen Kultur und Geschichte: »Ich kämpfe für unsere Kultur, für unser Recht auf Land und für unsere Existenz.«

Ein vereintes Dorf

Nur wenige Minuten von Demetrias Haus entfernt lebt die 12jährige María Ángel López. Was Demetria und María eint, ist ihr Kampfgeist: »Ich möchte auf die Straßen gehen und demonstrieren, wann immer ich kann; ich möchte meine Stimme erheben, anderen Frauen und Menschen helfen, die unter geschlechtsspezifischer Gewalt leiden, und eine Bildung entwickeln, die ihnen erklärt, was gut ist«, erzählt sie. Schon mit vier Jahren begann María, sich in Kindergruppen der NGO zu engagieren. Eine davon heißt Pata Amarilla und widmet sich der Förderung der Cultura Popular (»Volkskultur«): »El popular bedeutet für mich Gemeinschaft – das Gefühl, dass die Menschen um dich herum gut sind, sich helfen und Veränderung wollen«, sagt sie.

Das Ziel der Gruppe ist es, jungen Menschen eine positive Verbindung zum Begriff Popular zu ermöglichen, der in Lateinamerika oft abwertend gebraucht wird. María betont: »Viele denken, in den Barrios Populares dreht sich alles um Drogen oder Kriminalität – aber das stimmt nicht. Ich möchte, dass die Leute, wenn sie Popular hören, uns nicht als arm oder niedrig sehen, sondern als eine Gemeinschaft, die zusammenhält und kämpft.« María gehört zu einer neuen Generation, die bei Con-Vivamos aufgewachsen ist und früh gelernt hat, ihre Situation aus einer feministischen und klassenkämpferischen Perspektive zu verstehen. »Es gibt viele inspirierende Frauen bei Con-Vivamos«, sagt Alejandra. »Das macht die Mädchen stolz. Wenn man sie fragt, was sie werden wollen, sagen sie: Wir wollen Feministinnen werden!«

María, Alejandra, Noelia, Jeannette und Demetria stehen für viele Frauen in den Barrios, die trotz aller Herausforderungen nicht nur überleben, sondern ihre Zukunft selbst gestalten. Ihre widerständigen Geschichten zeigen, dass feministische Kämpfe in Kolumbien immer auch mit dem Kampf für soziale Gerechtigkeit, Landrechte und gegen koloniale sowie kapitalistische Ausbeutung verwoben sind. Der feminismo popular, wie ihn Con-Vivamos lebt, ist ein alltagsnaher Feminismus. Er richtet sich gegen patriarchale und soziale Ungleichheiten und setzt auf kollektives Lernen, Heilung und Solidarität – mit dem Ziel, die Realität von unten heraus zu verändern.

1 UN-Flüchtlingshilfe: Flucht und Binnenvertreibung in Kolumbien, 2023

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