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Aus: Ausgabe vom 16.06.2025, Seite 10 / Feuilleton
DDR

Das andere des Westens

Tobias J. Knoblich benennt in »Osten als Passage« Grundsätzliches, indem er von sich erzählt
Von Irmtraud Gutschke
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Atmosphärisch dichtes Nachsinnen: Tobias J. Knoblich

»Nicht mehr DDR, aber auch noch nicht Bundesrepublik«? Dieses Buch sei aus der Beobachtung entstanden, »dass das Ostdeutsche … auf robuste Weise fortbesteht«, so Tobias J. Knoblich. 1971 in Zwickau geboren, hat er über eine Fagottausbildung am dortigen Konservatorium, einen kurvenreichen Lebensweg beschritten: Als gelernter Verkehrskaufmann studierte er Kulturwissenschaft, promovierte, war von 2011 bis 2019 Kulturdirektor und von 2019 bis 2024 Kultur- und Stadtentwicklungsdezernent in Erfurt und ist jetzt (parteilos) Staatssekretär im Thüringer Ministerium für Digitales und Infrastruktur.

Sich nebenbei an ein einigermaßen dickes Buch zu setzen ist ihm offenbar Bedürfnis gewesen. Es galt zu erklären, was manche in seinem Umfeld vielleicht nicht verstehen: dass der Osten anders ist und womöglich auch bleibt, wie es der Soziologe Steffen Mau unlängst in seinem Buch »Ungleich vereint« begründet hat. Aber Knoblich nähert sich dieser Feststellung durch Erzählen. Der Mitteldeutsche Verlag hat seinem Band den Untertitel »Essays« gegeben. Nachdenken durch Erinnerung: Feinsinnig und sprachmächtig nimmt der Autor seine Leser mit zu ganz persönlichen Erlebnissen. Man merkt, wie ihm das Schreiben auch selber gutgetan hat als Vergewisserung von Herkunft und Werden. Und es tut auch beim Lesen gut, weil einem unwillkürlich eigene Erinnerungen in den Sinn kommen. Man vergleicht und wird sich um so mehr auch eigener Wurzeln bewusst.

Schlesische Sentenzen

»Wer ist dieser Junge, dieses Enkelkind, das von der verfallenen Gärtnerei im Dunkeln zum Haus zurückläuft, den Glühwürmchen folgt und gebannt ist von der Schönheit des lauen Sommerabends?« So beginnt es. Atmosphärisch dichtes Nachsinnen, das sich immer wieder weitet zur Frage, welche Prägekraft da entstand. Die Vorfahren stammten aus Schlesien. Dass rund 22 Prozent der DDR-Bevölkerung von jenseits der »Oder-Neiße-Friedensgrenze« kamen, ist mir bislang nicht bewusst gewesen. Im Sinne des Friedens jeglichem Revanchismus Einhalt zu gebieten sah ich als Notwendigkeit. Aber der Autor hat seinen Großeltern nachgefühlt: »den Schmerz der eingekapselten Flucht- und Vertreibungserfahrung, die in der DDR beiseitegeschoben worden war und nie ausheilen konnte«. Da stellt sich ihm eben auch eine Assoziation her zum Umgang mit dem Erbe der DDR in der nun größer gewordenen BRD – diesem Anerkennungsdefizit, das aus Zeiten der Zweistaatlichkeit einfach weiterwirkte.

Dem setzt er seine Erinnerungen entgegen: an den Kindergarten, die Schule, an Lektüren, die ihn prägten, an das Kinderkurheim in Aschersleben, an Omas »schlesische Sentenzen« und an deren Geschwister. Den Geruch von Bockwurst im Freibad hat er immer noch in der Nase, und die Neubauwohnung, die sie schließlich bekamen (80 Mark im Monat), hat er vor Augen. Eine »Broilerbar«, wie sie im Buch abgebildet ist, gab es nicht nur in Hoyerswerda. Und Musikschulen wie in Zwickau, wo er Fagott spielen lernte, hatten alle größeren Städte. Erinnerungen an Lehrerinnen und Lehrer, an Marx und Kirche, das Fahrrad »Diamant«, die erste »Simson«, den Urlaub im FDGB-Ferienheim, den Omnibus »Ikarus«, die Erzgebirgsweihnacht … und wie sich große Betriebe in den 1990er Jahren »in Ruinenlandschaften« verwandelten. »Das industrielle Herz der DDR, schon lange an einer Insuffizienz leidend: irreparabel gebrochen, Verwertbares von der Treuhand privatisiert, zumeist an jenen vorbei, die es über Jahre am Leben erhalten hatten.«

Kulturelles Kapital

Überhaupt diese 90er Jahre: Mit dem Begriff »Wende«, der Egon Krenz zugeschrieben wird, sind doch zunächst Veränderungen hin zu einem »demokratischen Sozialismus« gemeint gewesen. Viele wollten schon nicht mehr daran glauben. Dann aber mussten sie sehen, wie »unter der Maske der Individualisierung, nach der sich die Menschen so gesehnt hatten«, das »kühle und berechnende Antlitz der Ungleichheit« hervortrat, »die in großen Schritten die einstige sozialistische Republik der klein Gehaltenen durchmaß und diese graue Masse der Werktätigen durchwirbelte«. Da sind viele »Suchende, Verzweifelte, Gescheiterte« geblieben. Oder sie verleugneten sich, passten sich an. »Reflexartig« sei die ideologische Säuberung des öffentlichen Raums gewesen, heißt es im Buch. »Selbst Rosa Luxemburg musste als Namensgeberin für den Platz der Deutschen Einheit weichen …«

Der Osten als »das große Verschwinden«? Man dürfe »den Osten nicht zu stark vom 3. Oktober 1990 her denken, sondern muss seine tiefer wurzelnden Prägungen aufdecken«, meint der Autor und geht auch auf Dirk Oschmanns vieldiskutiertes Buch »Der Osten: eine westdeutsche Erfindung« ein. Denn hat sich nicht auch der Osten seinen Westen erfunden? Als »Traum vom Glück« flimmerte er einst über die Bildschirme. Derlei Illusionen hinter sich zu lassen, so weh es tat, sollte zu neuem Selbstbewusstsein verhelfen. »Der Osten muss das andere des Westens bleiben« – nicht etwa nur dadurch, dass er sich diesen »unerreichbar« auf einen Sockel stellt. Unsere Erfahrungen aus zwei Systemen sind als kulturelles Kapital nicht gering zu schätzen.

Tobias J. Knoblich: Osten als Passage. Essays. Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2025, 380 Seiten, 24 Euro

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