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Aus: Ausgabe vom 05.06.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Menschenrechte

»Das Leid der Sahrauis muss endlich Gehör finden«

Über die Situation in den besetzten Gebieten der Westsahara und das Schweigen der westlichen Staaten. Ein Gespräch mit Aminatou Haidar
Von Ben Francke
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Der Gewalt der marokkanischen Armee ausgesetzt: Zeltlager bei der Haupstadt Laayoune (8.11.2010)

Was ist der Grund für Ihren Besuch in Berlin, und welche Hoffnung verbinden Sie mit ihm?

Der Anlass meines Besuchs war eine gemeinsame Einladung der Internationalen Liga für Menschenrechte und der Gruppen »Jaima de Tiris« und »Hijas de Saguia« zu einer Konferenz im »Haus der Demokratie und Menschenrechte«. In ihrem Mittelpunkt standen das Protestcamp Gdeim Izik aus dem Jahr 2010 und die Situation der sahrauischen politischen Gefangenen, von denen viele seit fast 15 Jahren in Haft sind. Ich möchte vor allem ihre Stimmen und die der Sahrauis in den besetzten Gebieten nach Deutschland tragen. Sie alle haben großes Leid erfahren, das endlich Gehör finden muss. Der Konflikt erfordert dringend eine Lösung. Wenn ich sehe, was derzeit in Gaza geschieht, wächst in mir die Sorge, dass sich Vergleichbares auch in der Westsahara ereignen könnte. Besonders bei jungen Sahrauis verbreitet sich die Überzeugung, dass der bewaffnete Kampf der einzige verbleibende Weg ist. Nach mehr als drei Jahrzehnten der Untätigkeit seitens der internationalen Gemeinschaft und der Vereinten Nationen (seit dem 1991 vereinbarten, 2020 von Marokko gebrochenen Waffenstillstand mit der Befreiungsfront Polisario, nach dem ein Unabhängigkeitsreferendum stattfinden sollte, das aber von Marokko verschleppt wurde, jW) empfinden viele ihre Lage als aussichtslos. Diese Spirale der Gewalt muss durchbrochen werden, solange es noch möglich ist. Es darf nicht geschehen, dass die Menschen ihr Vertrauen in friedliche Formen des Widerstands endgültig verlieren.

Wie sieht das Leben unter der Besatzung aus und mit welchen Repressionen müssen Sahrauis rechnen, wenn sie für ihr Recht auf Selbstbestimmung eintreten?

Der Besatzungsstaat Marokko lässt keine Meinungsfreiheit zu. Demonstrationen und die Gründung von Organisationen sind verboten. Wer seine Stimme erhebt, muss mit Folter, Gefängnis und Repression rechnen. Das betrifft nicht nur die Person selbst, sondern oft auch ihre Familie. Die Justiz ist nicht unabhängig. Sie steht auf der Seite der Besatzung. Immer wieder kommt es zu langen und ungerechten Gefängnisstrafen für Demonstrierende. Aktuell gibt es 45 sahrauische politische Gefangene. Viele von ihnen wurden zu sehr langen Strafen verurteilt, zu 20 Jahren oder gar lebenslanger Haft. Besonders hart traf es die Organisatoren und Teilnehmer von Gdeim Izik, sie erhielten die längsten Gefängnisstrafen. All das geschieht unter einer strengen Informationssperre. Mehr als hundert internationale Beobachter, darunter auch Mitglieder des EU-Parlaments, wurden ausgewiesen oder bereits an der Einreise gehindert. Trotzdem gelangen Informationen nach außen, aber sie finden leider selten Gehör.

Wie bewerten Sie den jüngsten Besuch der französischen Kulturministerin Rachida Dati in der besetzten Westsahara?

Ihr Besuch fiel zeitlich mit dem Einreiseversuch von Delegationen aus Spanien und dem spanischen Baskenland zusammen. Beide wurden abgewiesen. Die Kulturministerin hingegen wurde freundlich empfangen. Sie erlebte keinerlei Repressionen, was für sich spricht. Sie besuchte weder sahrauische Viertel noch Gefängnisse oder Menschenrechtsaktivisten. Das Leben der sahrauischen Bevölkerung blieb für sie unsichtbar. Ihr Besuch diente allein der Legitimierung der marokkanischen Propaganda. Wir verurteilen ihn. Gerade eine Kulturministerin hätte sich mit den kulturellen Rechten und Freiheiten der Sahrauis befassen müssen. Der marokkanische Staat verbietet sahrauische Namen in Geburtsurkunden. Unsere Feiertage, unsere traditionellen Zelte und unsere Kleidung sind nicht erlaubt. Unsere Sprache Hassania wird gezielt verändert und ihrer Einzigartigkeit beraubt. In den öffentlichen Medien wird sie nicht repräsentiert. Unsere Kultur wird entweder verboten oder marokkanisch assimiliert.

Die letzte Bundesregierung begrüßte Marokkos »Autonomieplan« von 2007. Die aktuelle Regierung hat sich bislang noch nicht positioniert. War das Entgegenkommen gegenüber Rabat ein richtiger Schritt?

Nein. Ich wünsche mir von der neuen Regierung eine Rückkehr zum Völkerrecht. Statt des sogenannten Autonomieplans stellt die Achtung des Rechts der Sahrauis auf Selbstbestimmung die einzige Lösung der Situation dar. Jeder Vorschlag, der dieses Recht missachtet, verschärft den Konflikt und verzögert seine Lösung. Die Westsahara gilt als letzte Kolonie in Afrika und wird von den Vereinten Nationen als Gebiet ohne Selbstregierung geführt. Die Bundesregierung sollte sich an internationale Rechtsgrundlagen halten, um einen dauerhaften Frieden zu ermöglichen. Unser Recht steht uns zu, wie jedem anderen Volk auch.

Welche Rolle können Parteien, Gewerkschaften und Organisationen in Deutschland spielen, damit die Sahrauis ihr Recht auf Selbstbestimmung wahrnehmen können?

Genau wie von der Bundesregierung wünsche ich mir auch von ihnen mehr Solidarität mit dem sahrauischen Volk. Seit mehr als 50 Jahren leben wir unter Besatzung und leiden unter den Folgen. Ich bin dankbar für alle Parteien und Politiker, die ihre Stimme nutzen, um über die schmerzlichen Erfahrungen unseres Volkes zu sprechen. Gerade in Deutschland sollte man das Leid eines geteilten Volkes verstehen, denn die marokkanische Mauer (der sogenannte Berm, der sich quer durch die Westsahara zieht und von geschätzt 100.000 Soldaten bewacht wird; jW) hat unsere Gesellschaft zerrissen und eine menschliche Tragödie verursacht. Die meiste Solidarität erfahren wir in Spanien und von der Basis linker und sozialdemokratischer Parteien. Leider verändert sich die Haltung oft, sobald es um Regierungsverantwortung geht. Ein Beispiel ist Pedro Sánchez, der sich als sozialdemokratischer Premierminister überraschend für den »Autonomieplan« ausgesprochen hat. In Deutschland muss zunächst öffentlicher Druck entstehen, damit das Thema überhaupt die Aufmerksamkeit bekommt, die es verdient.Interview:

Aminatou Haidar ist Menschenrechtsaktivistin aus der von Marokko besetzten Westsahara. Sie war mehrfach inhaftiert und jahrelang »verschwunden«. Für ihren friedlichen Protest, darunter mehrere Hungerstreiks, wurde die oft »Gandhi der Westsahara« genannte Präsidentin der sahrauischen Menschenrechtsorganisation Codesa international vielfach geehrt.

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