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Aus: Ausgabe vom 21.05.2025, Seite 3 / Ausland
Konflikt im Maghreb

Ein illegales Angebot

Marokko will Sahelstaaten mit »Atlantikinitiative« Zugang zum Meer verschaffen und damit seine Westsahara-Besetzung absichern
Von Bernard Schmid
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Oberstes Ziel Marokkos: Die Kolonisierung der Westsahara soll unwiderruflich erscheinen

Das besetzte Gebiet zum Brückenkopf für internationalen Einfluss machen: Dies ist der aktuelle Plan der marokkanischen Monarchie für die Umwandlung der seit 1975 okkupierten Westsahara in einen »Hub« von kontinentaler Bedeutung. Im Hintergrund steht die von wachsenden Spannungen begleitete Rivalität zwischen den beiden Regionalmächten Marokko und Algerien.

»Marokko landet einen großen Coup mit den AES-Staaten«, titelte Ende April eine Internetzeitung in einem anderen zentralen Maghreb-Land, Tunisie numérique. Autor Souleymane Loum fügte hinzu: »Dort, wo Marokko ist, ist Algerien nie weit.« Gemeint war, dass die Initiative Marokkos stets auch im Lichte der Konkurrenz zum gemeinsamen algerischen Nachbarn betrachtet werden müsse. AES, also die »Allianz der Staaten des Sahel«, das ist der 2023 gegründete Dreibund der Sahelländer Mali, Burkina Faso und Niger.

Kurz vor Erscheinen des genannten Artikels waren die drei Außenminister dieser Allianz, die inzwischen auch gemeinsame Pässe für die Bürger ihrer Mitgliedsländer herausgibt und für die Zukunft eine gemeinsame Währung plant, um den postkolonialen CFA-Franc abzulösen, in der marokkanischen Hauptstadt Rabat empfangen worden. Tunisie numérique stellte dazu fest: »Algier entfernt sich zunehmend von Mali, Niger und Burkina Faso, Rabat nähert sich ihnen mit einem nie zuvor dagewesenen Programm in beschleunigtem Tempo an. Dieses wird das Gesicht der Region verändern.«

Kernpunkt der geopolitischen »Atlantikinitiative«, wie sie von Rabat getauft wurde, wäre die Transformation der Hafenstadt Dakhla in ein internationales Transportzentrum, das den ohne eigenen Meereszugang im Inneren des Kontinents gelegenen Sahelstaaten einen neuen Zugang zum Meer bieten würde. Wobei eines der Hauptprobleme darin läge, dass Dakhla juristisch und politisch gar nicht zu Marokko gehört, auch wenn es von dem Königreich kontrolliert wird, sondern zu einem anderen Territorium: dem der früheren spanischen Kolonie Westsahara. Diese wurde zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs des Franco-Regimes 1975 von Marokko besetzt – militärisch und auch symbolisch in Form des »Grünen Marsches«, einer gewaltigen Propagandaveranstaltung. Völkerrechtlich erlaubt es dieser Zustand Marokkos Staatsvertretern jedoch nicht, die Westsahara einfach als ihr Staatsgebiet auszugeben und zu behandeln. So kämpft auch die Befreiungsbewegung Frente Polisario gegen die marokkanische Präsenz und besteht auf dem von der UNO verbürgten Recht auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit.

Anders als das intensiv von westlichen Großmächten wie den USA und Frankreich unterstützte Marokko haben die AES-Staaten bisher eher eine Politik des Bruchs vor allem mit dem französischen Neokolonialismus verfolgt. Warum zeigen sie sich dann an der Initiative Rabats interessiert, die sichtlich darauf zielt, die Besetzung der Westsahara international abzusichern? Zu den Faktoren, die zum Verständnis erforderlich sind, zählt der wachsende Konflikt insbesondere zwischen Algerien und Mali. Dazu gehören unter anderem Uneinigkeiten über Autonomiebestrebungen von Tuareg-Bevölkerungsteilen in Nordmali – ein Abkommen zwischen deren Vertretern und der Zentralregierung in Bamako wurde 2015 in Algier abgeschlossen, Anfang 2024 jedoch von Bamako aufgekündigt. Mali verdächtigt Algerien, sich als Schutzmacht der Tuareg im Norden des Landes aufführen zu wollen.

Uneinigkeit besteht zudem über die Präsenz und Rolle von russischen Söldnern der »Gruppe Wagner« beziehungsweise ihres Nachfolgers »Afrikakorps« in Mali. Zwar betreibt Algerien keinesfalls eine antirussische Außenpolitik, in den Augen Algiers geht die Rolle der »Wagner«-Leute auf malischem Boden jedoch zu weit. Zuletzt eskalierten die Spannungen Anfang April infolge des Abschusses einer Mali gehörenden Drohne durch die algerische Luftwaffe. Zwischen Algier und Niger kam es wiederum aufgrund von Massenabschiebungen nigrischer Staatsbürger von algerischem Boden, 2024 und erneut 2025, zu Spannungen.

Mali, Burkina Faso und Niger verfügen schon über Verkehrsverbindungen, die es ihnen erlauben, ihre Im- und Exporte über Meereshäfen zu tätigen. Die wichtigsten liegen in Senegals Hauptstadt Dakar im Westen, in Abidjan in Côte d’Ivoire im Süden und in Lomé in Togo sowie Cotonou in Benin im Südosten des AES-Gebiets. Der Zugang zu diesen Hafenstädten war in der Vergangenheit jedoch keineswegs sicher. Dies zeigte sich etwa 2012, als in Mali ein Krieg mit in der Nordhälfte des Landes sich ausbreitenden dschihadistischen Gruppen ausbrach: Nachdem junge Offiziere der Armee unter dem Hauptmann Amadou Sanogo im März 2012 gegen eine als korrupt und gegenüber den Dschihadisten als handlungsunfähig geltende Regierung geputscht hatten, sorgten die Regierungen der Nachbarländer im Zusammenspiel mit dem in der Region damals noch viel einflussreicheren Frankreich mehrere Monate lang dafür, dass die malische Armee kaum Waffennachschub erhielt. Bestellte Lieferungen verrotteten in den Häfen von Dakar, Conakry und Abidjan.

Allgemein gilt auch hier: Der Freund meines Rivalen ist mein Freund. Marokko war auch bisher schon im Sahel präsent, insbesondere mit der Ausbildung von Imamen sowie von dort stammenden Studierenden an den Universitäten des Landes. Auch übernimmt die marokkanische Fluggesellschaft Royal Air Maroc (RAM) als preisgünstigster Anbieter von Flügen aus Europa in Richtung Sahel eine wichtige Funktion für internationale Personentransporte aus der und in die Region.

Hintergrund: Pipelineprojekte

Nicht erst seit Vorstellung der »königlichen Atlantikinitiative« infolge des Staatsbesuchs der AES-Außenminister vom 28. April existieren rivalisierende Projekte Marokkos und Algeriens zur Einbindung weiter Teile Afrikas in grenzüberschreitende Infrastruktur.

Bereits älter ist das Pipelineprojekt, das Nigeria mit Algerien und der Mittelmeerküste verbinden soll. Die Röhre unter der Bezeichnung »Transsaharische Gasleitung« soll es erlauben, Erdgas aus den Fördergebieten in Nigeria direkt bis vor die Tore Europas zu leiten, ohne es auf Tankern verschiffen zu müssen. Die Idee geht bereits auf die 1980er Jahre zurück. An Problemen bei ihrer Umsetzung mangelte es jedoch bislang nicht. Sie reichen von der Aktivität bewaffneter Rebellengruppen und Separatisten im öl- und gasreichen Nigerdelta über den algerischen Bürgerkrieg in den neunziger Jahren bis zu den jüngst nach dem Militärputsch in Niger vom Juli 2023 über dieses Land verhängten Sanktionen.

Erstmals wurde am 3. Juli 2009 eine Vereinbarung zwischen Nigeria, Niger und Algerien zu dem Projekt unterzeichnet. Präzisiert wurde es am Rande des 27. Gipfels der Afrikanischen Union (AU) in Kigali. Demnach sollten die Erdölgesellschaften der Förderländer Algerien und Nigeria, Sonatrach und NNPC, gemeinsam 90 Prozent der Anteil an der Pipelinegesellschaft halten und Nigers Erdölgesellschaft die übrigen zehn Prozent. Zuletzt hörte man von dem Vorhaben am 28. Juli 2022: Bei einem Treffen von Vertretern der drei Staaten in Algier wurde ein gemeinsames Vereinbarungsprotokoll dazu unterzeichnet. Theoretisch soll die Sache 2027 Gestalt annehmen.

2016 startete Marokko ein Konkurrenzprojekt. Es soll die Gestalt nicht einer Wüstendurchquerung, sondern einer Küstenpipeline mit einer Länge zwischen 5.600 und 6.800 Kilometern annehmen. Diese soll von Nigeria aus 13 afrikanische Staaten durchlaufen, in Marokko enden und von dort ans Versorgungsnetz in der EU angebunden werden. Eine Fertigstellung soll hier 2029 erfolgen. (bsc)

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