Gegründet 1947 Freitag, 6. Juni 2025, Nr. 129
Die junge Welt wird von 3011 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 04.06.2025, Seite 10 / Feuilleton
Theorie

Die Übermacht der Apparate

Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen: Thomas Wagners Buch »Abenteuer der Moderne. Die großen Jahre der Soziologie 1949–1969«
Von Kurt Seifert
10.jpg
Never mind the Verblendungszusammenhang: Theodor W. Adorno in Frankfurt am Main

Nach der Finanzkrise gegen Ende der nuller Jahre erlebte Gesellschaftskritik ein Revival. Anfragen an die Soziologie blieben nicht aus: Setze sie sich mit dem »krisenhaften Wandel der kapitalistischen Gesellschaftsformation« in einer Weise auseinander, die ihrem »kritisch-aufklärerischen Selbstverständnis« gerecht werde, wollten beispielsweise Klaus Dörre, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa 2010 in einem Band zur Debatte über »Sozialismus – Kapitalismus – Kritik« wissen. Diese sowie andere Autorinnen und Autoren haben in der Zwischenzeit wichtige Beiträge dazu geleistet, doch die akademische Disziplin bewegt sich längst nicht auf jenem Niveau, das sie in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht hatte.

Damals erlebte die Soziologie im deutschsprachigen Raum eine Renaissance, und um 1968 herum glaubten manche sogar, es handle sich um eine »revolutionäre« Wissenschaft. Ganz entscheidend für diesen Siegeszug waren die vielfach jüdischen Exilanten, die nach dem Ende des Krieges beschlossen hatten, nach Deutschland zurückzukehren. Da das Land zweigeteilt war, mussten sie eine Wahl treffen. Die meisten von ihnen gingen in den Westen – auch wenn sie sich selbst als Linke verstanden. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno begründeten ihre Entscheidung im sich abzeichnenden Kalten Krieg damit, dass ihre Forschungen und Schriften im »schärfsten Gegensatz zu der Politik und Doktrin« stünden, »die von der Sowjetunion ausgehen«. Dieser »antitotalitäre Konsens«, wie der Soziologe Thomas Wagner in seinem jüngst erschienenen Buch »Abenteuer der Moderne« schreibt, war dann auch die Grundlage für einen pragmatischen Kompromiss zwischen den früheren Nazigegnern und jenen, die vom Naziregime profitiert hatten.

Exemplarisch für die einst widerstreitenden, später koexistierenden Parteien stehen Adorno und Arnold Gehlen. Vor allem um deren komplexe Beziehung dreht sich Wagners Untersuchung über die »großen Jahre der Soziologie« zwischen 1949, dem Gründungsjahr der Bundesrepublik, und 1969, dem Todesjahr von Adorno. Gehlen (Jahrgang 1904) war nicht einfach ein Mitläufer der Nazibewegung, sondern vor allem auch deren Nutznießer: So konnte er 1933 eine Professur vertreten, die der aus dem Staatsdienst entlassene Theologe und religiöse Sozialist Paul Tillich zuvor innehatte. Wenig später übernahm er den Lehrstuhl seines Doktorvaters Hans Driesch in Leipzig, der wegen seiner pazifistischen Gesinnung und jüdischen Herkunft die Universität verlassen musste. Das war der Start von Gehlens akademischer Karriere, die er nach Kriegsende mit kurzer Unterbrechung wieder aufnehmen konnte.

Gehlen gehörte zu jenen Vertretern einer vermeintlichen »konservativen Revolution«, wie Armin Mohler es nennen wollte, die sich den Nazis andienten. Adorno (Jahrgang 1903) hingegen war eindeutig Antifaschist: Wegen seiner jüdischen Abstammung musste er 1934 ins Ausland gehen und kam erst knapp 20 Jahre später nach Frankfurt am Main und an die Universität zurück. Da waren Gehlens nationalrevolutionäre Illusionen schon längst verflogen. Als philosophischer Anthropologe ging er der Frage nach, wie die Welt beschaffen sein muss, damit der Mensch darin überleben kann. Seine Schlussfolgerung lautete: Er muss sie handelnd verändern. Das klingt schon ein wenig nach Karl Marx – und tatsächlich interessierten sich Marxisten wie Wolfgang Harich lebhaft für die Arbeit von Gehlen. Harich hoffte wohl, »den Klassenfeind zum wissenschaftlich begründeten Sozialismus bekehren zu können«, wie Wagner schreibt.

Doch aus den konservativen Revolutionären waren schließlich technokratische Konservative geworden. Die Sachgesetzlichkeiten der technisch-wissenschaftlichen Industriezivilisation würden einen solchen Anpassungsdruck auf die Individuen ausüben, dass die Menschheit »nunmehr jedwede politische Kontrolle über den Verlauf der weiteren Geschichte verloren« habe, referiert Thomas Wagner die Position von Gehlen.

In manchem stimmte die Frankfurter Schule überein mit dem Pessimismus der Konservativen angesichts der Übermacht der Apparate gegenüber den Menschen, die doch deren Schöpfer sind. Zugleich betonte Adorno in einem Briefwechsel mit Gehlen zu Beginn der 60er Jahre, diese Übermacht lasse sich durchschauen und als Schein entlarven. Adorno wollte den Menschen von allen repressiven Tendenzen befreien, während Gehlen darauf bedacht war, »stabilisieren zu helfen, was an Ordnung stiftenden Institutionen in seiner Wahrnehmung überhaupt noch geblieben war«. Er befürchtete, die Befreiung aus institutionellen Bindungen könne ungeheure Zerstörungskräfte freisetzen. Das ist auch von links her bedenkenswert. Wer die gesellschaftlichen Bindungskräfte auflöse, setze den »Unmenschen« frei, schrieb unlängst Michael Jäger im Freitag. Bei Donald Trump und seiner Entourage lässt sich das gegenwärtig sehr gründlich studieren.

Thomas Wagner: Abenteuer der Moderne. Die großen Jahre der Soziologie 1949–1969. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2025, 330 Seiten, 28 Euro

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Ähnliche:

  • 12.04.2002

    Versuchte Versuche

    Links zum Soziologieprojekt Niklas Luhmanns - ein kritisch-theoretischer Sammelband

Mehr aus: Feuilleton

                                                                   junge Welt stärken: 1.000 Abos jetzt!