Freischwimmer
Von Stefan Gärtner
»Worum geht’s denn da?« ist eine Frage, die wir Literaturprofis nie stellen, weil wir nämlich wissen, dass es, reden wir über Kunst, egal ist, worum es da geht, auch wenn das in dieser Grundsätzlichkeit natürlich nie stimmt. In »Krieg und Frieden« geht es um Krieg und Frieden, in »Madame Bovary« um ebendiese, wie ja selbst Flaubert den »Roman über nichts« nie geschrieben hat.
Das heißt natürlich nicht, dass man es nicht immer wieder versuchen könnte, und sei’s auf allegorischem Weg. Oliver Maria Schmitts dritter Roman »KomaSee«, der rund um den oberitalienischen Comer See spielt, handelt davon, wie eine alternde Paparazza in Zeiten, da das Geschäft mit den fiesen Fotos langsam, aber sicher von der KI beerdigt wird, noch einmal einen Coup zu landen versucht: ein Foto von George Clooney, welcher, wie wir aus Wartezimmern wissen, am See eine Villa bewohnt. Und wenn die Aufnahme dann noch die Geliebte zeigt, die Clooney gar nicht hat, um so besser. Dabei ist der schöne Star, man ahnt es schnell, ein MacGuffin, dient also bloß dazu, die Handlung voranzutreiben, wobei diese Handlung ihrerseits nur ein MacGuffin ist, indem sie aus allerlei Szenen, Vorkommnissen, Schwärmereien und Exaltationen besteht. Konservative Literaturfreundinnen werden finden, dass das mit dem bürgerlich-psychologischen Roman – trotz angeschlossener Familiengeschichte und erkennbaren Lehrmeistern wie Eckhard Henscheid und Martin Mosebach – nicht mehr allzuviel zu tun hat, diese atemlose Folge von Kabinettstück, Kalauer und jenem Reisefeuilleton, das Schmitt, früher Chefredakteur von Titanic und dort mein erster Vorgesetzter, als Journalist bedient. Schmitt, dieser »Ferrarifahrer der Prosaautoren seiner Generation« (Die Welt), steht tatsächlich gern auf dem Gas, und es wird auch viel gefahren in »KomaSee«, genauer: im Stau gestanden, was natürlich was heißen will. Doch wenn die Handlung nur ein Vorwand ist, wofür ist sie’s dann?
Dafür, dass ein Autor macht, was er will. Natürlich hat die Erzählung einen Anfang und ein Ende, sie rundet sich geradezu, aber auf so gewollte Weise, dass es nur ernst nehmen muss, wer keinen Spaß versteht. Es ist der Kunstgriff des Romans, dass er sein Thema sozusagen streng formal verhandelt, wenn es, zwischen Instagram und Yellow Press, um Schein und Sein geht, um die Hysterie der »dauerhaft sendenden und empfangenden Menschenmassen«, ihrer handygestützten Inszenierung der eigenen Person und von allem, was sogar noch banaler ist. Das ist sicher auch satirische Zeitkritik, hauptsächlich aber Prosa, die sich ganz genauso, freilich con grandezza in Szene setzt und ihren Punkt zumal dadurch macht, dass sie, bei allem feinen Impressionismus, wie umgekehrte Lyrik funktioniert: Schmitts Romane leben nicht von Verdichtung, sondern von der Ausschweifung, und taten sie das immer schon, hat Schmitt jetzt den Stoff gefunden, der das Maß Leerlauf, das Outriertheit eignet, zum Witz des Ganzen macht. Man kann sagen: »KomaSee« lässt den Leerlauf leerlaufen, ist der Roman als Entelechie, dessen Was sein Wie ohne Rücksicht bedingt.
Der See ist da natürlich Metapher, was sagen wir: Symbol. »Ich bin nicht hier, um dir Gesellschaft am Ufer zu leisten«, stößt Hauptperson Elena ihrem passend heißenden Verehrer Faustino Bescheid, dem italienischen Pseudoweltmann, dem Augenblick ganz hingegeben und mit einem Sohn namens Faustissimo gesegnet: Auch hier dreht sich’s ins Nirgendwo. »Ich schwimme lieber frei.« Der See ist immer da und überall, er ist das ganz und gar nicht geheime Zentrum des Romans, und im Sinne des oben Gesagten ist Schmitt am Lago di Como ein motorisierter Nachfahre von Goethe auf dem Zürichsee: »Auf der Welle blinken / Tausend schwebende Sterne, / Weiche Nebel trinken / Rings die türmende Ferne; / Morgenwind umflügelt / Die beschattete Bucht, / Und im See bespiegelt / Sich die reifende Frucht.« Und nun aber Faustino: »Schlechter Rotwein? Ich verstehe nicht, Grazissima. Das war Barolo!« – »Den du aus einem Tetrapak serviert hast.« – »Ein modernes Statement! Ich gehe mit der Zeit.« – »Und mit jeder, die in deine Reichweite kommt. Ich weiß Bescheid, Faustino. Du bist charmant, ja. Aber du bist wie der See hier: ganz schön anzusehen, aber voller dunkler Tiefen, die ich nicht erkunden will.« Dabei ist Faustinos dunkle Tiefe eine, die in zwei Sätzen verhandelt ist (und am Ende des Buches auch verhandelt wird), und so schwimmt der Roman frei an seiner Oberfläche, und wer immer jetzt noch einen Poproman schreibt, hat diesen Schuss nicht gehört.
Es gibt ein kleines Romanfragment von Eckhard Henscheid titels »Die Unverblühten«, und man versteht sofort, warum der Autor das Unternehmen abbrach: weil es glückte. Der ganze Henscheid besteht ja darin, dass die äußerste Beschränktheit der Welt und ihres Personals auf einen gnaden- oder besser hilflos erkennenden Beobachter trifft, dem nichts bleibt, als sein geballtes Sprachvermögen so auszuspielen und auf die Spitze zu treiben, dass, mit Kleists Marionetten- und Schopenhauers Erlösungsidee, das quälend unendliche Bewusstsein wieder zu reiner, naiver Grazie werden kann: die totale Sprache als totales Nichts. »Nichts« ist natürlich keine Kunst mehr, sondern, nun ja: nichts, und die »Unverblühten« waren nackte Manier, totale und letztlich tote Form. »KomaSee«, bei aller losen Forciertheit (doch, das gibt’s), ist es nur beinahe, so wie ja auch George Clooney nur beinahe nicht auftaucht und das Happy Ending nur beinahe nicht zuviel des Guten ist. Die letzte Zeile des Romans, der eine Kapitelüberschrift nicht zufällig dem Regisseur Wes Anderson widmet, darf Gianna Nannini beisteuern: »Bello, bello e invincibile«. Ist etwas nur schön genug, dann ist es unbesiegbar. Das gilt nicht nur für George und seinen See.
Oliver Maria Schmitt: KomaSee. Rowohlt Berlin, Berlin 2025, 320 Seiten, 24 Euro
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