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Aus: Ausgabe vom 24.05.2025, Seite 10 / Feuilleton
Theater

Die verlorene Unschuld

Premiere von Elfriede Jelineks »Burgtheater« an der Wiener Burg in der Bearbeitung und Regie von Milo Rau
Von Eileen Heerdegen
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»Endlich sind wir alle Täter. Das ist vielleicht das Tragischste« – Itay Tiran

Wir haben wieder einen »Summer of love«. Fast 60 Jahre nach »San Franciscan Nights«, den »flowers in your hair«, dem Monterey Festival 1967, haben die Wiener Festwochen unter Intendant Milo Rau 2025 erneut die »Freie Republik Wien« ausgerufen, diesmal unter dem Slogan »V is for love – republic of love«.

Das passt auch zum ESC, den glücklicherweise statt der obszönen Erika Vikman (»ich komme«) der niedliche JJ aus Wien mit »Wasted Love« für sich entschied, es passt aber gar nicht zur klimawandeluntypischen Kälte in diesem Wiener Mai, die aber wiederum der gesellschaftspolitischen Situation in meinen zwei Heimatländern gerecht wird.

»Es regiert der Hass« – Codo der Dritte, aus der Sternenmitte, Manfred Tauchen, ist gerade gestorben, die legendären »DÖF« – Deutsch-österreichisches Feingefühl aus den 80er Jahren. Damals, in journalistischen Kinderschuhen, war ich erstmals Besucherin der Wiener Festwochen; im »Kleinen Café« am Franziskanerplatz, dem Auffangbecken für gescheiterte Künstlerträume, erfuhr ich erstmals von Elfriede Jelineks »neuestem Werk«, und einem sicheren Skandal. Den gab es dann tatsächlich 1985 in Bonn anlässlich der Uraufführung von Jelineks »Burgtheater«. Eine »Posse mit Gesang«, die am Beispiel dreier österreichischer Schauspielheiliger künstlerischen Opportunismus, die Frage nach Mitläufertum oder Täterschaft und damit auch die Schuld der selbsternannten »ersten Opfer des deutschen Faschismus« (Ösis über Ösis) zur Diskussion stellt. Der anschließende Sturm auf die »Nestbeschmutzerin« so wüst, dass Jelinek die Aufführungsrechte sperren ließ und erst jetzt Milo Rau die Premiere im Wiener Burgtheater erlaubte.

»Burg« – es heißt jetzt wieder »die Burg«, sagt Mavie Hörbiger, die dort ihren Großvater Paul spielt, im »making of« des Stücks im Stück. Rau kombiniert Elemente des Originals mit verschachtelten Rahmenhandlungen. Vieles entstand in der Auseinandersetzung des Teams mit der Vorlage. Schräg, bunt, komisch, aber es werden auch Grenzen zwischen sehr persönlichen Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen und den Rollen der Schauspielerinnen und Schauspieler aufgebrochen, etwa wenn Mavie Hörbiger in einer der berührendsten Szenen des Abends über ihre und die widersprüchliche Rolle ihres Großvaters spricht, der »100 Heile-Welt-Filme« für die Nazis machte, aber später auch den Widerstand unterstützte und dafür sogar zum Tode verurteilt wurde: »Warum tu’ ich mir das an? Warum tu’ ich das unserer Familie an? Als würde man sich ein Grab schaufeln und selber hineinspringen. Der Skandal um das Stück hat auch Elfriede Jelinek traumatisch verändert. Sie hat sich danach aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, in Selbstisolation begeben. Wie ein Fluch liegt dieses Stück auf den Menschen. Auf der, die es geschrieben hat, und auf denen, die es beschreibt – die Nachfahren eingeschlossen. Warum also tu’ ich mir das an? Weil ich mir ›Heimkehr‹ angeschaut habe. Wieder und wieder. Diesen Nazi-Film, der in seiner Perfidie, Unverfrorenheit, Grausamkeit alles in den Schatten stellt.«

Bühnenrealität auch, wenn Caroline Peters, die als Kind tatsächlich die Uraufführung gesehen hat, damit kokettiert, dass Deutsche immer nur mit Nazirollen international Karriere machen. In dieser »Burgtheater«-Fassung spielt sie Attila Hörbiger, und zwar grandios. Urkomisch im von Jelinek vorgegebenen Kunstdialekt aus Phantasie-Wienerisch mit Phantasie-ungarischen Einsprengseln, bei Peters noch mal grotesker als bei ihren österreichischen Kolleginnen.

Birgit Minichmayr als Paula Wessely muss zur Kunstsprache auch noch das Spitzmäulige eleganter Damen zwischen den Zähnen hinausschieben, was sie absolut großartig macht, mir aber leider größtenteils unverständlich. Umso deutlicher das falsche weinerliche Pathos ihrer Wessely in »Heimkehr«: »Denkt doch bloß. Wenn so um uns rum lauter Deutsche sein werden. Und nicht wenn Du in einen Laden reinkommst, dass da einer jiddisch redet oder polnisch, sondern deutsch! Und nicht nur das ganze Dorf wird deutsch sein, sondern ringsum und rundherum wird alles deutsch sein. Und mia, mia werden so mitten drinnen sein im Herzen von Deutschland.«

So denken heute wieder viele, und der größte Skandal um »Burgtheater« ist, dass es keiner mehr ist, dass wir uns an die alten und neuen Nazis gewöhnt haben. Und haben wir nicht längst die Unschuld verloren? Sind wir nicht still geworden angesichts der Hetze um uns herum? Schwurbler, Putin-Troll, Antisemit. Auf der Bühne eine Folterszene, Tilman Tuppy als junger Nazi, der PoC Safira Robens die Fingernägel zieht: »Manisch sprichst du von unterdrückten Kolonialvölkern. Warum? Um abzulenken von eurem Antisemitismus. Das ist der übliche Trick von euch Linken. Ich bin eure Lügen so Leid! Die Schwarzen: alles Antisemiten! Alles Juden! Jüdische Antisemiten! Scheiß Schwarze! Volksverhetzer! Wir! Wir Österreicher sind die neuen Juden!«

Die große Kraft von Milo Raus »Burgtheater« liegt in dem Mut, sich zu bekennen. Zu bekennen, dass wir Sicherheiten verloren haben, kaum noch zwischen Gut und Böse unterschieden werden kann und die Lüge gewinnt. Neben Mavie Hörbiger ist der Monolog des Israelis Itay Tiran einer der persönlichsten Texte und doch so universell wahr: »... der 7. Oktober ... Und dann marschierte Israel in Gaza ein. Ich wusste: Wir zerstören nicht nur Gaza, wir zerstören uns selbst. Wir zerstören die Menschlichkeit selbst. Mittlerweile sind 50.000 Menschen gestorben. 15.000 davon sind Kinder. Ich konnte kein Interview mehr geben. Ich habe immer gegen die Besetzung der palästinensischen Gebiete geredet, und plötzlich konnte ich mich nicht mehr äußern. Die Mutter eines Freundes, Elma Abraham, 85 Jahre alt, wurde von der Hamas entführt ... Und jetzt? Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Ich glaube nichts mehr. Unsere Regierung schließt sich mit Rechtsextremen zusammen. Menschen, die ›Wir schaffen die Siebte Million‹ singen, werfen anderen Antisemitismus vor und besuchen Yad Vashem. ... Gerade noch haben sie die Juden ins Gas geschickt – jetzt brauchen sie uns, jetzt umarmen sie uns zu Tode. Manchmal denke ich, dass es den europäischen Rechtsextremen ein finsteres Vergnügen bereitet: all die Kriegsverbrechen, die Israel begeht. Als würden sie damit von ihrer eigenen Schuld, vom Holocaust entlastet. Seht her: Die Juden sind auch nicht nur gut, sind auch keine Opfer mehr. Endlich sind wir alle Täter. Das ist vielleicht das Tragischste.«

Und der »Summer of love?« 1967 war eigentlich das Ende der Hippie-Bewegung und schon zwei Jahre zuvor brachte Barry McGuire es auf den Punkt, an dem wir heute stehen: »We’re on the Eve of Destruction«.

Weitere Aufführungen: 1.6., 9.6., 14.6.

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