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Aus: Ausgabe vom 17.05.2025, Seite 10 / Feuilleton
Lyrik

Bloß nicht so tun, als wäre nichts

Simon Borowiak hat in seinem ersten Gedichtband »Falsche Dampfer« nicht auf alles einen Reim
Von Stefan Gärtner
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Das Offene der Kunst suchen: Simon Borowiak

Ich weiß nicht, ob es mir leid tun soll für Simon Borowiak, dass er sein schönstes Gedicht, fragt man mich, schon vor über 30 Jahren geschrieben hat, und zwar in der unvergänglichen Titanic-Nachrufreihe »Hessen nimmt Abschied«, in diesem Fall vom just an Aids verstorbenen Freddie Mercury: »Am Samstag fragt man: Fred, wie geht’s? / Am Sonntag sagt er: Isch hab’ Ehds. / Am Montag kommt er aus dem Haus: / Im Eischensarg. Die Füß’ voraus.« Das ist weit mehr als die satirierte Sicht des hessischen Kneipenbruders, nämlich die Comédie humaine in vier Zeilen; oder, nehmen wir das ganze Poem, in 16: »Am End’ hätt’ er noch gern gesunge. / Hätt’ er halt ned die Jungs besprunge! / Leut’! Sagt Ihr: ›Ehds, des krieg’ isch nie‹, / dann denkt an Freddie Mercury.« Machen wir; und mache ich, denke ich an Simon Borowiak, bereits ein halbes Leben lang.

Von diesem schon ausweislich seiner Nachrufgedichte großen komischen Dichter ist jetzt tatsächlich ein allererster Lyrikband erschienen, der Poeme aus vier Jahrzehnten versammelt. Dass das Freddie-Gedicht nicht enthalten ist, ist einerseits bedauerlich, andererseits ein Indiz dafür, dass auch Borowiak dem »komischen Dichter« nicht ganz traut, auch wenn das Büchlein viele Gedichte enthält, die ohne die Neue Frankfurter Schule und ihre Direktoren Gernhardt, Bernstein, Traxler nicht zu denken sind. Und doch mag es einem wie bei der Lektüre von Heinz Strunks Erfolgsroman »Der goldene Handschuh« gehen, mit dem sich der Autor ausdrücklich aus der komischen Ecke befreien wollte und der einem trotzdem, nee: deswegen viel weniger gut gefiel als »Fleisch ist mein Gemüse«, das schlichte, lustige Debüt, auf das man Strunk heute nicht mehr ansprechen darf. Die meisten Artefakte in »Falsche Dampfer« wollen lesbar mehr sein als Gelegenheitsgedichte, von denen aber gern in Vergessenheit gerät, dass selbst Goethe (gegenüber Eckermann) davon sprach, schlechthin »alle« seine Gedichte seien »Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden. Von Gedichten, aus der Luft gegriffen, halte ich nichts.«

Nun greift auch der Dichter Borowiak nicht aus der Luft, er greift aber auch nicht, um »Gelegenheitsgedicht« mal eng zu definieren, aus der Zeitung oder ins pralle Leben, denn das ist nicht prall, wenn eine »Bahnfahrt zu Ostern« bloß an »Kulissen« und »spinatgrün erbrochener Matte« vorbeiführt: »Herr! / Nur ein Erdloch / und einen Herzinfarkt – / ist denn das zu viel verlangt?« Der Dichter greift in sich hinein, und programmatisch beginnt der Band mit einem »Toten Vogel im Industriegebiet«:

Viele Vögel können schweben,

haben Äste, Wipfel, Kronen,

dürfen in den Lüften leben

und in Holz und Blüten wohnen.

Manche Vögel können sprechen.

Manche plappern gar am Stück.

Manche fliegen in die Städte.

Manche kehren nicht zurück.

»Persönliche Höhen und Tiefen haben das Leben des Schriftstellers Simon Borowiak geprägt«, meldet der Verlag, und diese Banalität lassen wir nur durchgehen, weil die Ausschläge, von denen hier die Rede ist, das übliche Maß sicher übersteigen. Ein Gedicht darf seine Geschichte aber ruhig selbst erzählen, und dieses hier tut’s, und dann verweist auch der Bruch im Reimschema auf den Bruch, um den es geht; auch wenn, wer im Proseminar mutig ist, das gern problematisieren darf, diese vage Grenze zwischen Absicht und der Unlust, ein Reimwort auf »sprechen« (oder »Städte«) zu finden.

Es gibt viele solcher Stellen auf Borowiaks falschem Dampfer, die aber im Gros der Fälle nicht den Autor überführen, sondern den Leser als einen, der kleinbürgerlich genug ist, von der formalen Perfektion des Nachrufs auf Mercury nicht loszukommen. Wenn Literatur aber ist, dass der Stoff möglichst restlos zur Form wird, ist gar nicht einzusehen, warum nur das Perfekte gelten dürfen sollte; falls, Dialektik!, das Imperfekte die Perfektion nicht eben herstellt: Ist das Unterlaufen von Erwartung in der komischen Kunst nicht ein Standard? Und ist eine erfüllte Erwartung nicht eh das Gegenteil von Kunst?

Schwefelgilber Himmel

Winterliche Pracht

Auf den Dächern Schimmel

In den Herzen Nacht

Kommt ein Straßenräumer

Räumt uns alle ab

Nein, das hätte man nicht unbedingt im Deutschabi besprechen wollen, zu einer Zeit nämlich, als man längst noch nicht so weit war, Kunst nicht einfach für das Kunstvolle zu halten und das »Schwefelgilb« vielleicht noch überlesen hätte; wobei gerade diese kleine Justage es ist, die aus frühen Tagebuchversen etwas Höheres macht und den übersimplen Schluss als existentielles Achselzucken beglaubigt. Denn so übersimpel ist es ja am Ende nun mal, wie der Reim als solcher Harmonie auch da herstellt, wo keine ist; und wiederum darf eins finden, die bloße Assonanz, dieser Pseudoreim, demontiere die Pseudostimmung passend. Unterscheiden lässt sich das von einer bloß mittelguten Pointe (als die freilich auch der Tod selbst gelten darf) nicht; hier hat es das klassische komische Gedicht, das seine Wirkung aus dem Neben- und Gegeneinander von strenger Form und losem Stoff bezieht, leichter, weil es auf Tadellosigkeit angewiesen ist. Borowiaks Lyrik, soweit sie der Autor hier gesammelt hat, macht sich da angreifbar; man könnte auch sagen, sie tut nicht so, als wäre nichts:

Frühherbst

Traktor räumt die letzten Felder.

Rübe fällt auf Ackersaum.

Krähen, Enten, reisefertig,

lärmen hoch im blauen Raum.

Raschelnd knittert Abgeblühtes,

Überall plumpst Obst vom Baum.

Häcksler, Fräsen, Kettensägen

jaulen wie in bösem Traum.

Heckenscheren, Äxte, Trimmer

stutzen alle Herrlichkeit.

Der Herbst – man hört es meilenweit –

ist eine laute Jahreszeit.

Und wieder braucht das einen Moment, bis man zu der Möglichkeit gelangt, der abschließende Dreifachreim (und Verzicht auf die so naheliegenden Reime »immer« oder »schlimmer«) samt hartem Metrums- und Vokalwechsel sei kein Kunstfehler, sondern im Gegenteil; und dann reisen auch Krähen und Enten, was man erst nachschlägt, um es zu glauben.

So war man, ist das Buch schließlich zugeklappt, wirklich auf dem falschen Dampfer, und ist Kunst nicht zuletzt das Offene, Irritierende, nicht Ausdeutbare, dann ist hier jeder Argwohn, die Einordnung betreffend, fehl am Platz. Oder jedenfalls beinahe jeder; aber das, wir sahen es, gehört zum Spiel. Wie es im Gedicht »Hier stimmt was nicht« heißt: »Was ich Dir heute sage ist nie rein / immer verschmutzt / vom Hintergrundgeräusch des Films / und Bildern die nichts anderes / als trügen.«

Und also stimmt’s natürlich wieder.

Simon Borowiak: Falsche Dampfer. Gedichte. Satyr-Verlag, Berlin 2025, 96 Seiten, 20 Euro

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