Gegründet 1947 Sa. / So., 10. / 11. Mai 2025, Nr. 108
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Aus: Ausgabe vom 10.05.2025, Seite 3 / Feuilleton
8. Mai

Das Gestern im Heute

»Das Banner des Sieges weitertragen«. Die jW-Veranstaltung zum 80. Jahrestag der Befreiung vom deutschen Faschismus
Von Kai Köhler
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Das »Hannes Zerbe Jazz Orchester« spielt Schostakowitsch

Achtzig Jahre nach dem Kriegsende in Europa und nach der Befreiung vom Faschismus ist die politische Lage kompliziert. Russland als der wichtigste Nachfolgestaat der Sowjetunion wird von offiziellen Veranstaltungen ausgeschlossen. Deutsche Politiker reden von Kriegstüchtigkeit und setzen eine Aufrüstung in Gang, die einen neuen Angriff Richtung Osten befürchten lässt. Den Liberalen dient ihre Version des Antifaschismus als Rechtfertigungsideologie, dass ein geläutertes Deutschland nun die Verpflichtung habe, Störenfriede einer »regelbasierten Ordnung« in die Schranken zu weisen. Die radikale Rechte will von Befreiung gleich gar nichts wissen und fordert eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad. Das antifaschistische Erbe der DDR wird seit dreißig Jahren immer wieder mit Füßen getreten.

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Die russische Historikerin Ksenia Chepikova referiert zum deutschen Genozid an der Sowjetbevölkerung

Unter diesen Bedingungen organisierte die junge Welt am 8. Mai eine Veranstaltung unter dem Titel »Das Banner des Sieges weitertragen«. Dieses Motto zu erfüllen verlangt eine historische Vergegenwärtigung, eine aktuelle Lagebestimmung und eine Strategiediskussion.

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Vergegenwärtigung der Vergangenheit, Lagebestimmung, Schlussfolgerungen. Diskutanten auf dem Podium

Ersteres leistete die russische Historikerin Ksenia Chepikova, die in strenger Sachlichkeit und gerade dadurch eindrucksvoll das von Nazis entworfene Mordprogramm an der slawischen Bevölkerung darlegte. Die rassistische Überzeugung, es mit minderwertigen Menschen zu tun zu haben, kam mit ernährungspolitischem Kalkül zusammen. In den Monaten vor dem Überfall auf die Sowjetunion rechneten die Planer aus, wie viele potentielle Esser in den besetzten Gebieten verhungern müssten, um die Wehrmacht komplett durch eine ehemals sowjetische Landwirtschaft zu versorgen. Sie kamen auf dreißig Millionen. Das hatte konkrete Folgen. Auch wenn der Plan nicht komplett durchgeführt wurde: zwischen vier und sieben Millionen Sowjetbürger, Kriegsgefangene und Zivilisten, verhungerten. Chepikova wies nach, dass die 1948 bestimmten Merkmale des Genozids auf dieses Verbrechen zutreffen und dass es den Völkermorden an Juden und an Sinti und Roma an die Seite zu stellen ist.

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Die junge Welt im Visier des Staates. Verlagsleiter Sebastian Carlens

Dieser Einschätzung steht, wie Arnold Schölzel in einem anderen Vortrag zeigte, die gegenwärtige deutsche Politik entgegen. Um den 8. Mai herum herrscht Panik, der Ukraine-Krieg könne enden – Bundespräsident Steinmeier sieht in einer möglichen Verständigung zwischen den USA und Russland einen »Epochenbruch«. Der neue Außenminister Wadephul verlangt, die Ukraine »mit allen Mitteln« zu unterstützen und dürfte dies auch wörtlich so meinen. Hoffnung sieht Schölzel darin, dass der 8. Mai – über deutsche Reaktionen hinaus – eine globale Bedeutung hat. Mit ihm sei das Ende des Kolonialismus eingeleitet worden, mithin das Ende des »kolumbianischen Zeitalter« (Domenico Losurdo). Nun agiere der globale Süden immer selbstbewusster. Immerhin werden dreißig Staats- und Regierungschefs aus diesen Regionen zur Siegesparade in Moskau am 9. Mai reisen.

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Arnold Schölzel, Mitglied der jW-Chefredaktion, zum offiziellen Umgang der BRD mit dem 8. Mai

Viel spricht für die Einschätzung, die Manfred Sohn (Marx-Engels-Stiftung) in der Podiumsdiskussion zum Thema, was Antifaschismus heute heißt, äußerte: dass Europa nur noch ein Randgebiet des großen eurasischen Kontinents ist und Zukunftsfragen woanders entschieden werden. Doch ist zugleich richtig, dass dieses Randgebiet in den Jahrhunderten seiner globalen Dominanz erhebliche materielle Ressourcen angehäuft hat und diese in Waffen umzusetzen plant, deren Einsatz globale Auswirkungen hätte. Entsprechend sieht Sohn die Hauptaufgabe von Linken in Deutschland heute darin, die Arbeiterklasse vom Kriegskurs abzubringen.

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Die Sängerin und Schauspielerin Gina Pietsch führt durch die Veranstaltung

Dies erfordert Bündnispolitik – doch Bündnis mit wem? Einigkeit bestand darin, dass die AfD kein Partner sein kann. Sie hat, wie Andrea Hornung (SDAJ) ausführte, die doppelte Funktion, heute berechtigte Unzufriedenheit nach rechts abzulenken und für die Zukunft, im Notfall fürs Kapital eine faschistische Alternative zu bieten. Manfred Sohn verwies darauf, dass schon die NSDAP vor der Machtübergabe 1933 sich ihres pseudolinken Flügels entledigte. Bei der AfD dürfte es nicht anders kommen.

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Musikalische Begleitung: Isabel Neuenfeldt

Wie aber geht man heute mit Faschisten um? Hans Bauer (GRH) machte die Verhältnisse in der DDR deutlich. Dort gab es nicht nur, wie es die Ideologie heute zu wissen behauptet, »verordneten«, sondern wirklichen Antifaschismus. Bauer nannte Zahlen: In der DDR wurden 13.000 Naziverbrecher verurteilt, in der BRD mit ihrer fast vierfach größeren Bevölkerung 7.000. Aber dieses Erbe ist weitgehend zerschlagen. Heute gibt es zahlenmäßig beeindruckende Demonstrationen gegen die AfD, doch mit Politikern jener Parteien, deren Migrationspolitik von den Forderungen der AfD auch mit der Lupe kaum mehr zu unterscheiden ist. Dennoch, so bestand Einigkeit, müssen Linke dorthin gehen. Taylan Çiftçi (DIDF) plädierte dafür, dort ehrlich interessierte Teilnehmer anzusprechen und ebenso, mit jenen zu diskutieren, die sich gerade in eine sozialdemokratisierte Linkspartei verirren. Zentral aber ist die Selbstorganisation der Werktätigen. Dabei können gemeinsame Tarifkämpfe mit migrantischen Beschäftigten eine wichtige Erfahrung sein.

Keinesfalls hilft es, so Çiftçi, à la BSW migrationspolitische Positionen von den Rechten zu übernehmen. Gegen jedes Anpassertum sprach sich auch Hornung aus. Und es stimmt ja: Die AfD wird stark, weil die Politik der herrschenden Parteien für die große Mehrheit der Bevölkerung ruinös ist. Hornung sieht die Aufgabe der Linken nicht darin, das bestehende Schlechte gegen das noch Schlechtere zu sichern, sondern eine klare Systemopposition zu formulieren und zur Praxis zu machen. Dabei wird es helfen, so Çiftçi, die absehbaren Folgen der Kriegswirtschaft zu verdeutlichen.

Hintergrund: Die »Leningrader« auf einen Streich

Schostakowitsch meinte einmal: »Ein großartiges Musikstück ist wunderschön, unabhängig davon, wie es aufgeführt wird.« Und unbestritten ist seine 7. Sinfonie, wie übrigens jede seiner Sinfonien, großartig. Aber ob sie im Sinne einer Ästhetik, also der allgemeinen Lehre von der Schönheit, als »wunderschön« zu gelten hat, ist fraglich. Der Komponist begann 1941, kurz nach Beginn der Belagerung Leningrads mit diesem Werk. Wie wir wissen, lebte er zu dieser Zeit in der Stadt, war der Stadtfeuerwehr zugeteilt und schrieb, wenn es ging, an der Siebten, wobei rechts und links von seiner Wohnung der Granatbeschuss bellte. Und das ist, wie ich meine, der Kern der Sinfonie! Schostakowitsch hat nicht rückblickend komponiert, nein, er steckte wie der Rotarmist bis zum Hals in der Totalität des Augenblicks. Das einzige, was feststand und nicht wackelte, war die Rückführung aller musikalischen Fäden auf den Grundton im Schlussakkord. Aber was ist mit den stummen Schreien? Wie ist es mit der frühlingszarten Sehnsucht in dieser Musik? Musik, die dröhnt, sich sprengt. Die Totalität des Augenblicks, da, wo alles offen ist, der nächste Tag genauso wie das Ende des Schreckens. Alles ist und sonst ist nichts!

Das »Hannes Zerbe Jazz Orchester« spielte nun auf unserer Festveranstaltung im Kino Babylon Berlin u. a. nach Motiven von Schostakowitschs »Leningrader Sinfonie« eine neue Komposition ihres Orchesterleiters Hannes Zerbe. Eine erste Aufführung des noch nicht abgeschlossenen Werks. Zu Beginn, ähnlich einer Ouvertüre, weist die Rhythmusfraktion der knapp zwanzig Orchestermitglieder, vor allem das Schlagzeug, die Richtung und stellt das Hauptthema des Allegretto der 7. Sinfonie vor. Dabei hat das Vibraphon schon einmal Gelegenheit, ordentlich querzuschießen und sich mit dem Marschtakt der nahenden Feinde zu duellieren. Darauf folgen Zerbe und Genossen, wie sie die Jazzgemeinde kennt. Angeführt vom Saxofon, gefolgt vom Flügel, wieder dem Schlagzeug, weiteren Saxofonen wirbelt man sich immer weiter und schneller ins Fortissimo, wo dann jeder seinen Anteil an den 90 Dezibel im Saal hat. Seien es Fagott, Trompete, Posaune, Horn, Tuba, Baritonsaxophon und immer wieder die Spielfreude in den Gesichtern der Truppe. Nach laut kommt leise, verhalten, abgedämpft. Die Holzbläser wechseln sich unaufgeregt mit den Blechbläsern ab, bevor dann, nun breiter, der erste Satz der »Leningrader«, der preußische Dampfhammer, den intonierten Größenwahn zelebrieren darf – bis er, die Stadt eingekesselt, haltmacht und gierig auf die Stadt schielt.

Hagen Bonn

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