Mann allein im Haus
Von Marc Hieronimus
Eine der acht besten Graphic Novels des letzten Jahres, schreibt die New York Times. Ein komplexes Meisterwerk, meint der Tagespiegel. Andreas Platthaus urteilt in der FAZ: »Ein Buch für die Comicgeschichtsbücher, ein Sonntagskind dieser Kunstform«. Dem RBB 3 ist er der Comic des Monats April 2025 und ein »Diskurs über Menschlichkeit«, der Deutschlandfunk Kultur rühmt die »spielerische und mitreißende Komposition aus Panels und Text«. Nicht zuletzt ist auch die Kulturredaktion der jW der Meinung, dass man bzw. der Mann hinter diesen Zeilen Olivier Schrauwens »Sonntag« lesen müsse.
Zuerst sträubte sich der Rezensent, also der Einfachheit halber »ich«, weil die Ankündigung nichts Gutes verhieß: »Dieser außergewöhnlich durchschnittliche Mittdreißiger verbringt eine gefühlte Ewigkeit – tatsächlich aber genau einen Sonntag – alleine in seinem Haus. An dem Tag, an dem seine Freundin von einer längeren Reise zurückkehren soll, wacht Thibault auf, hängt rum, kriegt James Brown nicht aus dem Kopf, trinkt, raucht, sinniert über seine Beziehung und kämpft mit dem Verfassen von Textnachrichten, während er allen und jedem aus dem Weg geht und immer tiefer in seine Gedanken und Ängste abdriftet.«
Hm, joah … Sport, ausreichend Schlaf, Meditation, vielleicht begleitend Therapie, dann sollte ein einigermaßen feinfühliger und ja auch nicht mehr ganz so junger Mensch doch eigentlich zu einer etwas fruchtbareren Lebensgestaltung finden können, oder? Und wenn schon die Verlagsdichterin die Lektüre als Ewigkeit empfindet, wie geht es dann dem nicht dafür bezahlten Leser? Doch dann schlägt der Ton um in fast schon religiöse Verzückung: »Thibaults spektakulär unspektakulärer Sonntag steht Olivier Schrauwens spektakulärer Zeichen- und Erzählkunst gegenüber: So entwickeln die Dissonanzen zwischen Thibaults innerer Gedankenwelt, seinen Reflexionen, Erinnerungen, Behauptungen, Wünschen, Ängsten und den äußeren Umständen eine einzigartige Ästhetik, Tragik und Komik.«
Das Auseinanderklaffen von Wunsch und Wirklichkeit, Selbstbild und Außenwirkung ist zweifellos ein guter Stoff für Tragik und Komik, nur dass Thibaults Sonntag weder tragisch noch komisch ist, dafür passiert viel zuwenig. Der Kerl säuft den Präsentkorb für seinen Vater leer, holt sich einen runter, müsste eigentlich arbeiten oder sich zumindest mal die Zehennägel schneiden, kriegt den Arsch aber nicht hoch. Kochen schlägt fehl, aber als er in den Sachen seiner verreisten Freundin wühlt, findet er Gras, also raucht er sich einen, guckt einen Film, träumt von einer Frau, mit der er mal eine Affäre hatte und pennt ein.
Einzig spannend ist, wie seine Bekannten – neben den zwei besagten leidlich illustren Damen und ein paar Statisten besonders sein widerlicher und, so ist zu befürchten, dem echten Leben abgeschauter Vetter – sich zusammentun, um ihn um Mitternacht zu überraschen, da hat er nämlich Geburtstag. Also dringt der Cousin über den Hinterhof in seine Bude, öffnet der Gesellschaft die Tür, die versammelt sich vor dem ratzenden Kiffer mit den löchrigen Socken und zählt rückwärts bis null Uhr – aber da ist der Sonntag und damit der Comic auch schon zu Ende.
»Magisch und schön«, wie der New Yorker befindet? Weder noch. Farblich und zeichnerisch ist hier trotz aller augenscheinlichen Nachbearbeitung am Computer noch reichlich Weg bis zur Meisterschaft. Wenn zum Beispiel James Brown mehrfach beim Namen genannt werden muss, weil er allein anhand der Zeichnung nicht zu erkennen wäre, können durchaus Zweifel am handwerklichen Geschick des Künstlers aufkommen. Bewusstseinsstrom, Symbolik, Stil- und Perspektivwechsel hat Schrauwen weder erfunden noch weiterentwickelt. Nicht einmal, dass sich die lautesten Urteile durchsetzen und einen Überbietungswettbewerb befeuern, ist »magisch«, sondern markt- und gruppenpsychologisch erklärlich und in den Medien mehr Regel als Ausnahme. Nein, der Comic ist keine Augenweide und kein Denkanstoß, und wer sich wie manche Rezensenten in der Hauptfigur wiederfindet, sollte dringend an sich arbeiten.
Oliver Schrauwen: Sonntag. Edition Moderne, Zürich 2025, 472 Seiten, 45 Euro
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