junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Sa. / So., 04. / 5. Mai 2024, Nr. 104
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 26.04.2024, Seite 10 / Feuilleton
Serie

Adorno würde kotzen

Gründlich gegen die Wand fahren: Die norwegische Serie »Mittsommernacht«
Von Frank Jöricke
MAX02949_Max Emanuelson_Netflix.jpg
Friede, Freude, Eierkuchen (Filmszene)

Dies ist eine großartig misslungene Miniserie. »Mittsommernacht« sollte in Drehbuchwerkstätten und Filmhochschulen als Anschauungsmaterial eingesetzt werden. Selten kann man in derart skalpellartiger Präzision verfolgen, wie die Dramaturgie verhunzt wird.

Dramaturgie – wir erinnern uns an den Deutschunterricht – kommt von Drama. Und dessen Regeln haben sich seit den Zeiten eines Aristoteles, also seit rund 2.500 Jahren, nicht geändert. Ein Drama hat fünf Akte: Exposition, Steigerung, Höhepunkt, retardierendes Moment, Katastrophe. Da ist es sicher kein Zufall, dass »Mittsommernacht« fünf Folgen hat.

Die Exposition – die Einführung der Charaktere und der Konflikte, die zwischen ihnen herrschen – erinnert an den ersten dänischen Dogma-Film »Das Fest« (1998) von Thomas Vinterberg. Auch dort ist die Familienfeier der perfekte Rahmen, um Totgeschwiegenes öffentlichzumachen. In »Mittsommernacht« hat jeder seine Leichen im Keller, und die Frage ist, welche zuerst den ahnungslosen Verwandten und Freunden präsentiert werden (die ihrerseits genug zu verbergen haben).

Da wird natürlich fett aufgetragen: die Mutter, die ihren Mann nach 30 Jahren Ehe verlassen will; der Bruder, der noch nicht weiß, dass er seine junge Freundin geschwängert hat; die ältere Tochter, die ihren künftigen Gatten kurz vor der Hochzeit betrogen hat (was nicht nur die eifersüchtige jüngere Tochter weiß); deren Exfreund, der befürchten muss zu sterben; des Vaters Tochter aus erster Ehe, die nicht verwunden hat, dass sie lieber bei ihm als bei der psychisch kranken Mutter aufgewachsen wäre etc.

Da schwelt so einiges vor sich hin. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie daraus ein veritabler Flächenbrand wird. Und der bricht dann – minimal verspätet – zu Beginn der vierten Folge aus. Bis dahin hat Regisseur und Drehbuchautor Per-Olav Sørensen alles richtig gemacht. In kurzen Rückblenden (viele davon spielen wenige Wochen zuvor) zeigt er die Vorgeschichten zur eigentlichen Geschichte. Dadurch begreift man, in welch angeschlagener seelischer Verfassung sich die einzelnen Festteilnehmer befinden.

Um so grotesker mutet die Feier an. Da versuchen Erwachsene noch einmal Kindergeburtstag zu spielen. Es gibt Torte, Sackhüpfen und Mitsinglieder. Doch kein Ringelpiez mit Anfassen bringt die verlorene Unschuld zurück. Als dann endlich Schluss mit lustig ist (willkommen im vierten Akt!), freut man sich auf die Obduktion der pathologischen Psychen – schließlich ist es ein skandinavisches Werk.

Doch dann geschieht das Unerwartete, ja, Unfassbare. Statt die Trümmer in aller Ruhe aufzuhäufen (wir erinnern uns: vierter Akt gleich retardierendes Moment) und sie dann mit einem lauten Knall noch einmal explodieren zu lassen (fünfter Akt: Katastrophe), werden aus dem Nichts Luftschlösser gebaut. Als hätte man ein Drehbuch von Ingmar Bergman gegen ein Skript von Rosamunde Pilcher eingetauscht.

Das kann nicht funktionieren. Wer sich an romantische Komödien wie »Harry und Sally«, »Schlaflos in ­Seattle« und »E-Mail für dich« erinnert, weiß: Ein Happyend erzielt nur dann die gewünschte Wirkung, wenn man die Darsteller sympathisch findet. Einer Meg Ryan oder einem Tom Hanks gönnt man alles Glück der Welt. Das ist in »Mittsommernacht« anders. Hier hat sich ein Ensemble an Unsympathen zusammengefunden. Die Protagonisten sind wahlweise selbstgefällig, übergriffig, polternd, verstockt, undurchsichtig, verlogen oder einfach nur nervig.

Doch das sind nicht mal ihre schlimmsten Eigenschaften. Dieser Fünfakter wird dadurch zum Ärgernis, dass jener Moment der Wahrhaftigkeit, in dem das Lügengebäude einkracht, schon in den folgenden Szenen relativiert wird. Hier steht keiner zu dem, was er gesagt oder getan hat – Rückgratlosigkeit allenthalben. Menschen entschuldigen sich dafür, dass sie ausnahmsweise authentisch waren. Wer sich selbst bezichtigt (z. B. als »Idiotin«) und den Bittgang nach Canossa antritt, wird belohnt.

Das absehbare Massenhappyend lässt man dann nur noch lethargisch über sich ergehen. Man hat die Botschaft dieses Antidramas ja längst begriffen: Der Wohlstandsbürger von heute – auch der in Skandinavien – will keine Revolution, sondern Absolution. Er will darin bestätigt werden, dass es doch ein richtiges Leben im falschen gibt. Adorno würde kotzen.

»Mittsommernacht«, Regie: Per-Olav Sørensen, Norwegen 2024, fünf Folgen, insg. 154 Min., bei Netflix

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.

Ähnliche:

  • Ausdruck des finnischen Patriotismus: Das Sibelius-Denkmal im Si...
    08.12.2015

    Über das Beschränkte hinaus

    Vor 150 Jahren wurde Jean Sibelius ­geboren. Das Attribut »Nationalkomponist« widerspricht trotz ­reaktionärer ­politischer Auffassungen des Musikers seinem Werk

Regio:

Mehr aus: Feuilleton