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Aus: Ausgabe vom 26.04.2024, Seite 11 / Feuilleton
Theorie

Das Blatt vom Mund genommen

Simon Sahner und Daniel Stähr dekonstruieren die Sprache des Kapitalismus
Von Marc Püschel
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Wer hat, der hat: Leonardo DiCaprio als Jordan Belfort in »The Wolf of Wall Street«

Es sind Formulierungen, an die man sich gewöhnt hat. Als Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck Mitte Februar durch Sachsen und Thüringen tourte, warnte er vor einem »perfekten Sturm«, der sich über Deutschlands Wirtschaft zusammenbraue. Die Bevölkerung habe sich auf die ökonomische Wetterlage einzustellen. »Die Zeit der Gemütlichkeit ist wirklich vorbei«, kündigte Habeck auf einem Podium in Leipzig an. Diese Rhetorik ist ein Paradebeispiel dafür, was Simon Sahner und Daniel Stähr in ihrem gleichnamigen Buch als »die Sprache des Kapitalismus« analysieren.

Ob perfekter Sturm, kranker Mann, Rettungsschirm oder die berühmte unsichtbare Hand – viele Ausdrücke sind uns im ökonomischen Kontext schon so geläufig, dass wir gar nicht mehr über sie nachdenken. Doch die vertrauten Sprachbilder und Redewendungen transportieren Botschaften, die es zu entschlüsseln gilt. »Wir wollen den sprachlichen Mustern und Spuren nachgehen, die der Kapitalismus hervorgebracht hat und die ihn gleichzeitig stützen«, so Sahner und Stähr. Die Autoren des Onlinemagazins 54books leisten dabei klassische Dekonstruktionsarbeit. Insbesondere in der Metaphorik entdecken sie »sprachliche Instrumente, um die Wahrnehmung des Publikums zu beeinflussen«.

Der Markt als Lebewesen

Eine entscheidende Rolle spielen dabei Naturkatastrophen: Stürme, Tsunamis und Flutwellen sind besonders beliebte Metaphern zur Beschreibung ökonomischer Vorgänge. Nicht nur lösen sie beim Publikum bestimmte Emotionen aus, indem sie Bilder aus dem kollektiven Gedächtnis evozieren, sie stellen zudem wirtschaftliche Entwicklungen als Naturgewalten dar, gegen die man angeblich nichts machen kann und die keinen Verursacher haben. So helfen die Metaphern, »die Verantwortung für konkrete Situationen von einzelnen Personen und Institutionen wegzuschieben« und verschleiern Handlungsalternativen.

Ausdrücklich ohne damit eine Verschwörungserzählung einer gezielten Aktion von Kapitalisten stützen zu wollen, weisen Sahner und Stähr diese Form der Naturalisierung und Entpersonalisierung selbst in scheinbar harmlosen Ausdrücken nach – etwa wenn »Preise steigen« anstatt aktiv erhöht zu werden. »Die Vorstellung vom Markt als Lebewesen, das einen eigenständigen, von uns und der Politik nicht zu kontrollierenden Willen hat, ist eines der machtvollsten und einflussreichsten Bilder, die die Sprache des Kapitalismus hervorgebracht hat«, konstatieren die Autoren. Besonderes Augenmerk wird daher auf die Analyse der berühmten Formulierung der »unsichtbaren Hand des Marktes« gelegt – ein Ausdruck, der bei Adam Smith am Rande und in einem spezifischen Kontext vorkommt, in den 1960er Jahren von Akteuren wie dem Ökonomen Milton Friedman aber gezielt vereinfacht wurde, um wirtschaftsliberale Reformen populär zu machen.

Populäre Debatten

Doch die Sprache des Kapitalismus naturalisiert nicht nur, sie moralisiert auch. Die Rede davon, wer etwas »leistet«, wer »Verdienste« hat oder was überhaupt als Arbeit gilt, ist selten neutral. Ob es um die Nichtanerkennung von Sorgearbeit geht oder um die Aufforderung an verschuldete Länder, Arbeits- und Finanzdisziplin einzuhalten: In nahezu alle Formulierungen des öffentlichen Diskurses fließen mehr oder weniger explizite Wertungen ein. So darf sich etwa, wer keiner Lohnarbeit nachgeht, aber viel Geld hat, mit dem vornehm klingenden Namen des »Privatiers« schmücken – wer keiner Lohnarbeit nachgeht, aber wenig Geld hat, bekommt im schlechtesten Falle einen diffamierenden Spitznamen samt Hetzkampagne von der Boulevardpresse.

Generell kann das Buch in vielen Punkten an populäre Debatten anknüpfen. Manches dürfte der Leserschaft daher auch bereits bekannt sein. So ist es sicherlich keine grundstürzende Erkenntnis, die Rolle des vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Mythos zu erläutern. Auch darauf hinzuweisen, dass die Bedeutung von »Arbeitgeber« und »Arbeitnehmer« eigentlich verkehrt ist, knüpft an Überlegungen an, die sich fast jeder schon mal gemacht haben dürfte. Doch Sahner und Stähr geben diesen Gedanken etymologischen Tiefgang. Wer weiß schon, dass die Begriffe »Arbeitgeber« und »Arbeitnehmer« von den Wörtern »Dienstgeber« und »Dienstnehmer« abgeleitet sind, die wiederum aus der Spätzeit des Feudalismus stammen? Auch andere Begriffe entstammen einer Zeit, in der Abhängigkeitsverhältnisse formalisiert und damit offen zutage traten. Das gilt selbst für so harmlose Ausdrücke wie den Urlaub, denn »im Mittelhochdeutschen war der urloup die Erlaubnis zu gehen, die Leibeigene oder Untergeordnete von Herrschenden erhielten«.

Zentrale Mythen

Von der Sprachanalyse im engeren Sinne weiten die Autoren im Verlauf des Buches den Blick für allgemeine Erzählungen und Darstellungen des Kapitalismus. Dass dabei auch Filmanalysen (beispielsweise von »The Wolf of Wall Street«) einfließen, ist zwar schlüssig – schließlich gibt es auch eine Bildsprache –, doch wird nicht präzise zwischen den verschiedenen sprachlich-medialen Ebenen unterschieden. Auch der Übergang zwischen der Sprachdekonstruktion und der inhaltlichen Auseinandersetzung ist fließend. So wird gegen zentrale Mythen des Kapitalismus, etwa dass jeder Mensch durch Leistung zu Wohlstand gelangen könne, auch auf der sachlichen Ebene argumentiert. Nun sind dies in der Tat Erzählungen, bei denen sich Form und Inhalt, die Erzählung selbst und ihre Behauptung, nicht voneinander trennen lassen. Zudem stützen sich Sahner und Stähr auf kompetente Vorarbeit, Analysen von Thomas Piketty, Ulrike Herrmann oder David Graeber liefern einen gründlichen Unterbau. Aber mitunter läuft damit das Buch, besonders in den letzten Kapiteln, Gefahr, in zu allgemeine Kapitalismuskritik abzugleiten.

Dennoch leisten Sahner und Stähr Pionierarbeit. Die Anzahl ideologiekritischer Untersuchungen zum Kapitalismus mag Legion sein, doch dem vielbeschworenen »linguistic turn« zum Trotz steht gerade das Unterfangen, kapitalistische Sprach- und Erzählformen zu untersuchen, relativ alleine da. Auch ähnliche Projekte setzen meist andere Schwerpunkte, so das stärker auf die ganze Alltagswelt fokussierte Bändchen »Lexikon der Leistungsgesellschaft« von Sebastian Friedrich. Demgegenüber gelingt es Sahner und Stähr, gerade ihren spezifischen Anspruch einzulösen und »ein Bewusstsein dafür (zu) schaffen, wie Sprache und Erzählungen zur Funktionsweise des Kapitalismus beitragen«. Dass ein anderes Sprechen über unsere Wirtschaftsform nicht möglich sei, wird man nach diesem Buch nicht mehr behaupten können.

Simon Sahner/Daniel Stähr: Die Sprache des Kapitalismus. S.-Fischer-Verlag, ­Frankfurt a. M. 2024, 304 Seiten, 24 Euro

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (26. April 2024 um 11:01 Uhr)
    In einer Welt, in der die Sprache das Schweigen brechen kann, wirft der Artikel »Das Blatt vom Mund genommen« von Simon Sahner und Daniel Stähr eine wichtige Frage auf: Wer wedelt hier mit wem? Die Autoren dekonstruieren erstrangig die allgegenwärtige medial-propagandistische Sprache des »gottgegebenen« Kapitalismus, die oft wie der treue Hund am Schwanz des Systems zu wedeln scheint. Doch während sie nur die metaphorische Leine untersuchen, die den Kapitalismus führt, bleibt die Frage: Ist es die Sprache, die den Kapitalismus kontrolliert, oder ist es der Kapitalismus, der die Sprache dominiert? Diese Frage ist keine leichte Knochenarbeit. Es ist eine komplexe Interaktion, bei der die Sprache und der Kapitalismus sich gegenseitig befruchten und verstärken können. Aber es ist wichtig, den Unterschied zwischen dem schwanzwedelnden Hund und dem Kapitalismus als seinem Herrn zu erkennen. Vielleicht ist es an der Zeit, die Leine zu ergreifen und die Sprache neu zu formen, um dem Kapitalismus nicht länger freie Bahn zu lassen. Es ist an der Zeit, dem Schwanz nicht mehr zu erlauben, den Hund zu führen.

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