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Aus: Ausgabe vom 20.04.2024, Seite 11 / Feuilleton
Holocaust

Tag für Tag

Eine akribische Chronik macht die Entwicklung des Holocaust online nachvollziehbar. Das Projekt braucht Unterstützung
Von Felix Bartels
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Deportierte Juden bei der Ankunft im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau

Geschichte wird geschrieben, gelesen selten. Zumeist scheinen historiographische Fachwerke nur in die Welt gestoßen, um sogleich in den Fachbibliotheken zu versinken. 1.000 Stunden Arbeit für 100 Leser in 50 Jahren, es war gewiss nicht das, was Leute einmal antrieb, Historiker zu werden. Wie wichtig das Publikmachen, nicht lediglich Publizieren, historischer Darstellungen sein kann, zeigt die online verfügbare »Chronologie des Holocaust«. Knut Mellenthin hat die Arbeit daran vor etwa 40 Jahren begonnen, 15 Jahre nahm die Recherche in Anspruch, die Veröffentlichung noch einmal so viel. Der Versuch, die Chronik bei einem Verlag herauszubringen, scheiterte. 2006 ging das Projekt mit seinen Inhalten online. Seither hat es mehrere Preise erhalten, unter anderem den Alternativen Medienpreis 2007. Die täglichen Zugriffszahlen liegen heute zwischen 500 und 1.300. Die Holocaust-Chronologie hat damit eine Sichtbarkeit erreicht, die mittels Printveröffentlichung schwerlich geglückt wäre.

Das Projekt folgt keinen kommerziellen Zwecken. Mellenthin betreibt es, unterstützt von Eileen Heerdegen und Jürgen Bartl, ehrenamtlich. Folglich ist die Seite auf Zuwendungen angewiesen. 2016 und 2017 hat eine Förderung der Rosa-Luxemburg-Stiftung den technischen Umbau ermöglicht. Nun steht ein weiterer solcher Umbau an, eine Förderung allerdings aus. Ohne Spenden wird er nicht möglich sein.

Was eine Chronologie des Holocausts nötig macht, muss eigentlich nicht begründet werden. Eigentlich. Detailliert erforscht wie kaum ein anderer Geschichtsabschnitt, ist die Schoah zugleich Projektionsfläche und politisches Kampffeld für Konflikte der Gegenwart geworden. Staatsoffizielle Israel-Solidarität dient als Mantel für geostrategische Interessen des transatlantischen Blocks. Postkoloniale Denkmode arbeitet dessen reaktionären Gegenspielern zu. Verengung und Umdeutung der Schoah kann man kaum besser denn mit Empirie begegnen. Politisches Interesse lässt sich mittels Vernunft nicht aushebeln, wenn überhaupt, dann mit Tatsachen.

In der Geschichte der Völkermorde nimmt der Holocaust keine singuläre, doch eine besondere Stellung ein. Das ergibt sich bereits aus seiner Dimension. Zugleich aus seiner Form. Die Ermordung von sechs Millionen jüdischen Menschen vollzog sich nicht bloß planmäßig organisiert, sie vollzog sich regelrecht industriell. Und sie war nicht regional begrenzt, auf die »Säuberung« bestimmter Zonen ausgelegt. Der Völkermord wurde global, die vollständige Auslöschung eines Volks sein Ziel. Dass die darauf hinarbeitende Praxis nicht von Beginn an gegeben sein konnte, ist ein Widerspruch, der als Natur der Sache erklärt werden kann. Gerade die Tag-für-Tag-Form der Holocaust-Chronologie hilft, diese Natur – das Werden eines implizit angelegten Ziels, das erst in seiner Ausführung ganz zu sich kommt – anschaulich zu machen. Hierin liegt ein besonderer Wert der Chronologie.

Wer die Wurzeln der Schoah sucht, muss ins 19. Jahrhundert zurückgehen, zur Entstehung des modernen Antisemitismus, in dem der Judenhass vom blanken Affekt und Ergebnis psychologischer, kultureller und ökonomisch-politischer Dynamiken in ein Modell umfassender Welt­erklärung überführt wird. Wo der Jude nicht bloß stört, nicht lediglich als Grund für dieses oder jenes konkrete Übel herhalten muss, sondern zum Grund für den üblen Zustand der Welt überhaupt erklärt wird, ist das Ziel seiner Vernichtung enthalten. So weit kann die Holocaust-Chronologie natürlich nicht zurückgehen, sie muss, historiographisch adäquat, 1933 beginnen. Zwischen Adolf Stoecker und Adolf Hitler lag die »Schmach von Versailles«, einem Brandbeschleuniger gleich. Ideologisch ist die Differenz weniger groß. Für die Nazis erwies sich, was bei Marr, Stoecker, Treitschke oder in dem 1903 publizierten Joly-Plagiat »Die Protokolle der Weisen von Zion« ausgelegt ist, als überaus instruktiv. Mit dem Nazireich war die Möglichkeiten gegeben, Judenhass staatlich zu organisieren.

Seit der Machtübernahme kumuliert sich antisemitische Praxis, ihr eliminatorischer Charakter ist von Beginn an kenntlich, zustande kommt diese Praxis aber zunächst spontan. Das entspricht dem Racket-Charakter des Nazistaats, wie Franz Neumann ihn beschrieben hat: Ein übergreifendes, wahnhaftes Unternehmen wird durch eine chaotische Maschinerie miteinander konkurrierender Partikulargewalten hergestellt. Die staatliche Politik der NSDAP gibt dem von den Horden der SA und SS ausgehenden Terror nach und nach eine Form. Berufsverbote (»Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«), Kauft-nicht-beim-Juden-Boykotte, örtliche Pogrome und punktuelle Enteignungen (erst 1938 juristisch grundiert) setzen bereits 1933 ein. Die Nürnberger Rassengesetze versuchen ab 1935 der spontanen Vernichtungspraxis eine objektive Grundlage zu geben und Vernichtung nicht direkt durch Ermordung, sondern durch Geburtenkontrolle und Isolation über Generationen hinweg umzusetzen. Mit der Pogromnacht von 1938, der Einrichtung von Ghettos und der systematischen »Deportation« erreicht die Vernichtungspraxis eine neue Stufe, das Deutsche Reich soll nun so zügig wie möglich von Juden »gesäubert« werden. Systematischer Massenmord wird etwa seit dem Beginn des Russland-Feldzugs 1941 betrieben. Auch hier zunächst noch nicht als groß angelegtes, durchorganisiertes Gesamtunternehmen, SS und Wehrmacht agieren initiativ mit Massenerschießen und anderen Methoden, die im Rahmen militärischer Vorgänge möglich sind, vor allem in den eroberten östlichen Gebieten Europas. Der Krieg war nicht die Ursache der Schoah, sondern das Szenario ihrer vollen Entfaltung. Erst durch die Landnahme weiter Teile Europas konnte das Ziel einer vollständigen globalen Vernichtung des jüdischen Volks in Angriff genommen werden. Das höchste Stadium dieses Unternehmens markiert dann das System der Vernichtungslager, die industrielle Massentötung.

Mehr als tausend Einträge hat die Tag-für-Tag-Chronik. Sie ist das Kern- und Hauptstück der Web­seite, beginnend mit dem 30. Januar 1933, der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler, und endend mit dem 8. Mai 1945, der Kapitulation Deutschlands im Zweiten Weltkrieg. Eingeflossen sind hier Daten von Morden, Pogromen, Deportationen, die Entwicklung antijüdischer Gesetzgebung und Maßnahmen zur Vorbereitung des industriellen Massenmords. Parallel dazu werden öffentliche oder später bekannt gewordene Äußerungen von Hitler und Goebbels zur »Judenfrage« sowie relevante diplomatische Korrespondenz verzeichnet. Ebenfalls in der Chronik: die wichtigsten Ereignisse des Weltkriegs sowie seiner Vorgeschichte, einem Countdown gleich mitlaufend.

Bemerkenswert sind auch die auxiliaren Rubriken. Eine Literaturliste, die natürlich nicht den Umfang wissenschaftlicher Bibliographien erreicht, verschafft eine erste Übersicht zum Thema. Ein Glossar erläutert die wesentlichen Begriffe des Geschichtsabschnitts. Eine Sammlung frei lesbarer Essays dient der Vertiefung oder Weiterführung.

www.holocaust-chronologie.de

Spendenkonto: Knut Mellenthin

DE86 2005 0550 1501 1513 75 bei der Hamburger Sparkasse

Stichwort Chronologie

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