4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 20.04.2024, Seite 10 / Feuilleton
Kino

Glamping im Geisterwald

Aus der Perspektive des toten Rehs: Hamaguchi Ryūsukes versponnen-schöner Film »Evil Does Not Exist«
Von Holger Römers
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Bilder und Bäume: Hana (Nishikawa Ryo)

In Umkehrung der beim Filmemachen üblichen Arbeitsteilung ist »Evil Does Not Exist« auf Anregung der Komponistin des Soundtracks entstanden. Ishibashi Eiko hatte die Musik zu Hamaguchi Ryūsuke »Drive My Car« beigesteuert und den Filmemacher anschließend gebeten, Videomaterial zu drehen, das sie bei eigenen Konzerten vorführen könnte. Anstoß zu einer weiteren, noch intensiveren Zusammenarbeit, aus der der 74minütige Stummfilm »Gift« hervorging, der seit vergangenem Jahr gelegentlich bei Filmfestivals und in Cinematheken vorgeführt wird – ausschließlich mit musikalischer Live-Begleitung von Ishibashi.

Vordergründig mag »Evil Does Not Exist« einfach als Tonfilmfassung von »Gift« erscheinen. Man könnte sich an jene kurze Phase in den späten 1920er Jahren erinnert fühlen, als die neue Tonfilmtechnik noch nicht flächendeckend durchgesetzt war, weshalb von einzelnen Filmen je eine Version mit Dialogen auf den Markt gebracht wurde und eine ohne. Jedenfalls bestehen beide Filme aus fast identischen Bildern: Obwohl Hamaguchi nach eigenen Angaben stets andere Takes, also verschiedene Aufnahmen der jeweils selben Szene, verwendet hat, fallen nur zwei-, dreimal geringfügige Abweichungen ins Auge.

Auch die dünne Handlung ist in groben Zügen unverändert geblieben. In ihrem Zentrum steht der alleinerziehende Witwer Takumi (Omika Hitoshi), der in ländlicher Abgeschiedenheit als Mann-für-alles arbeitet – und regelmäßig vergisst, seine Tochter Hana (Nishikawa Ryo) aus der Grundschule abzuholen. Wie seine verstreut lebenden Nachbarn wird er durch den Plan einer Tokioter Firma aufgeschreckt, in der hügeligen Waldlandschaft einen luxuriösen Campingplatz aus dem Boden zu stampfen. Um den absehbaren Konflikt zu entschärfen, versuchen die (zweimal) aus der Hauptstadt anreisenden Firmenrepräsentanten Takahashi (Kosaka Ryuji) und Mayuzumi (Shibutani Ayaka), Takumi zur Mitarbeit an dem Bauvorhaben zu bewegen.

Die Dialoge in »Evil Does Not Exist« dienen nicht allein dem pragmatischen Ersatz der Texttafeln, die in »Gift« gelegentlich eingeblendet wurden. Statt dessen nutzt Hamaguchi gleich die erste von drei wortreichen Szenen, gezielt Möglichkeiten und Grenzen des miteinander Sprechens auszuloten: Bei einer Bürgerversammlung in der örtlichen Schule zeichnet sich ab, dass die Ortsansässigen, obwohl ihre wirtschaftliche Existenz teils unmittelbar von den Bauplänen bedroht wäre, durchaus gesprächsbereit sind. Allerdings bestätigt sich in einer weiteren langen, hinter den Kulissen der Tokioter Firma stattfindenden Dialogszene, dass deren öffentliches Gesprächsangebot allein dem Zweck diente, die Form zu wahren und dem Projekt scheinbar demokratische Legitimation zu verschaffen. Gegen den Zeitdruck, den die Ausschüttungsfristen für COVID-Hilfsgelder auf seiten des eigentlich in der Kulturbranche tätigen Unternehmens erzeugen, wäre auch mit Engelszungen nicht anzukommen. Wenn Takahashi und Mayuzumi dann nochmals in die Provinz aufbrechen, stellt sich beim Small Talk im Auto beiläufig heraus, wie frustriert sie von dem Unsinn sind, als dessen Fürsprecher sie öffentlich auftreten müssen, es geht schließlich um »glamping«, eine glamouröse Form des Campings.

Im Kontrast zur Banalität von betriebswirtschaftlichem Kalkül und Bürokratie können die teils erhabenen, teils der konkreten Dingwelt verhafteten Naturdarstellungen um so ausdrucksstärker wirken. Wenn Hana allein durch den Wald streift, schwingt in der Musik und im Bild stets eine märchenhafte Gefahr mit, wobei durchaus fraglich bleibt, welche Bedeutung etwa einer langen, himmelwärts gerichteten Fahrtaufnahme zukommen mag. Mitunter verblüfft Kitagawa Yoshios Kamera, indem sie kurz die Perspektive wilden Wasabis oder eines toten Rehkitzes einnimmt. Wenn bei einer ungeschnittenen Fahrtaufnahme vorübergehend eine Böschung den Protagonisten verdeckt, weckt der subtile Überraschungseffekt indes den Verdacht, dass die daran anschließende zauberhafte Veränderung des Bildinhalts gar nicht real ist. Vielleicht sind solche schillernden Bilder ähnlich zu verstehen wie der Text einer schaurig-schönen Blues-Ballade – bei der poetische Mehrdeutigkeit anklingt und jeder Vers der Melodie und dem Rhythmus der Musik folgt.

»Evil Does Not Exist«, Regie: Hamaguchi Ryūsuke, Japan 2023, 106 Min., bereits angelaufen

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