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Aus: Ausgabe vom 18.04.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Räume der Gewalt

Der Krieg als Roadmovie und Schnappschuss: Alex Garlands Spielfilm »Civil War«
Von Kai Köhler
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Ethos der Sachlichkeit: Unterschwellig herrscht Bürgerkrieg auch in der Kleingruppe der Reporter

In Washington regiert ein Präsident, der sich – vermutlich mit zweifelhaften Methoden – eine dritte Amtszeit gesichert hat. Die »Western Forces«, eine Allianz aus texanischen und kalifornischen Truppen, rücken auf die Hauptstadt zu. Nebenrollen spielen Streitkräfte aus Florida und die »Portland Maoists«. Außerdem gibt es Milizen, die für die eine oder andere Seite kämpfen, ihren Heimatbezirk sichern oder einfach nur so mordbrennen. Irgendwann geraten die Kriegsberichterstatter, die im Mittelpunkt des Films stehen, in eine verzweifelte Situation. »Wir sind Amerikaner«, versucht einer von ihnen die Lage zu retten. »Okay«, der Bewaffnete kratzt sich an der Wange, »welche Sorte Amerikaner seid ihr?« Die Antwort will wohlüberlegt sein.

Ohne Geschichte

Zur Vorgeschichte dieses Bürgerkrieges gibt es in Alex Garlands (»Ex Machina«) Zukunftsszenario »Civil War« wenig Informationen – und darüber, für welche politischen Ziele die wichtigsten Gruppen stehen, gar keine. Offensichtlich soll es darum auch gar nicht groß gehen. Ausgerechnet das liberale Kalifornien und das reaktionäre Texas in eine Allianz zu bringen, zeigt, dass Garland nicht die aktuellen Konfliktlinien in eine nahe Zukunft verlängert. Vielmehr veranschaulicht er die Bürgerkriegsdynamik als solche. Es gibt keine klaren Frontlinien – die Gewalt kann von überall kommen, ohne dass immer klar wäre, wer sie ausübt und zu welchem Zweck. Zwischen Zonen größter Verwüstung liegen vom Krieg scheinbar unberührte Orte. Dennoch ist die Brutalisierung fortgeschritten. Folter scheint so üblich wie Massenhinrichtungen. Kein Zweifel besteht daran, dass die Zentralregierung üble Methoden anwendet. Aber auch die »Western Forces«, wenn sie schließlich in Washington einrücken, sind nicht eben zimperlich. Und keine der Parteien stört sich mehr daran, die eigene Gewalt der Presse vorzuführen.

Als Bürgerkriegsdiagnose ist all dies nicht eben neu. Hier wird es gekonnt inszeniert, auch klug, was die taktischen Details betrifft. Allenfalls wäre einzuwenden, dass die Kämpfer allzu professionell agieren. In wirklichen Kriegen fehlt es den einzelnen an Übersicht, Soldaten geraten in Panik. Dann funktioniert der Gewaltapparat nicht mehr, oder umgekehrt: Die Gewalt wird ausgeweitet, ziellos. Aber so wichtig die Bürgerkriegsthematik ist, hier bildet sie den Hintergrund für die eigentliche Geschichte. Dieser Kriegsfilm ist ein Roadmovie.

Groß rauskommen

Vier Kriegsreporter unternehmen eine Fahrt von New York nach Washington, wo sie von dem bedrohten Präsidenten (Nick Offerman) das erste Interview seit vielen Monaten bekommen wollen. Der Plan geht auf die erfahrene Berichterstatterin Lee (Kirsten Dunst) und ihren Partner Joel (Wagner Moura) zurück. Der alte Sammy (Stephen McKinley Henderson) warnt vor der Gefahr und fährt trotzdem mit – für eine gute Story hat er noch stets sein Leben riskiert. Mit mehr als nur sanftem Druck setzt die Nachwuchsreporterin Jessie (Cailee Spaeny) durch, dass sie mitfahren darf. Sie will ihre Idole begleiten, von ihnen das Handwerk lernen, vielleicht sogar selbst groß herauskommen.

Allmähliche Abhärtung

»Civil War« ist vor allem die ­Geschichte einer erfolgreichen Initiation. Als Jessie die ersten Gefolterten sieht, erstarrt sie. Lee beweist als ihre Lehrmeisterin, wie man in so einer Situation ein gutes Foto macht und erklärt, dass die Opfer ohnehin bald in den Händen ihrer Peiniger sterben werden. Allmähliche Abhärtung ist erforderlich. Nach ihrer ersten Gewalterfahrung kotzt Jessie noch. Während des Endkampfs in Washington verfügt sie bereits über die Kälte, in großer Gefahr brauchbare Bilder zu schießen. Andererseits entsteht in der Gruppe der Beobachter, durch professionellen Respekt und darüber hinaus, für Momente eine Solidarität, die bis zur Opferbereitschaft geht, allerdings zugunsten von Jessie.

Damit wird der Titel mehrdeutig. Unterschwellig herrscht der Bürgerkrieg auch in der Kleingruppe der Reporter mit ihren drei Generationen. Der Älteste stirbt zuerst, die Jüngste drängt nach. Gewalt zu dokumentieren, ohne Partei zu ergreifen, lässt sich als journalistisches Ethos rechtfertigen, wobei Sachlichkeit ein moralischer Wert ist, der fallweise amoralisch zugunsten der Täter wirken kann. Jessie lernt diese Haltung von ihren Lehrmeistern und auf deren Kosten. Sie wird Karriere machen. Die Kriege enden nicht, auch wenn der, den sie fotografiert, militärisch entschieden ist. Parteilichkeit vergessen, mit der Kamera draufhalten, den wichtigsten Moment mit perfektem Bildausschnitt verkaufen. Damit wird sie Erfolg haben, bis es am Ende auch sie erwischen wird.

»Civil War«, Regie: Alex Garland, USA/UK 2024, 109 Min., Kinostart: heute

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