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Aus: Ausgabe vom 18.04.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Der letzte seiner Art

Ned Beaumans so fabelhafter wie aktueller Roman »Der gemeine Lumpfisch«
Von Herbert Bauch
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Sieht dümmer aus, als er ist: Gemeiner Lumpfisch

Chiu Chiu ist tot. Sein Tod, er war der letzte seiner Spezies Ailuropoda melanoleuca, hat weltweit Bestürzung, Trauer und Wut ausgelöst. Versehentlich ausgerottet, der Große Panda, der putzige Lieblingsbär von Milliarden Menschen. Der Verlust hat Folgen. China ruft eine Weltkommission zur Bekämpfung des Arten­sterbens (WBKA) ins Leben; 197 Staaten treten ihr bei. Künftig regelt der freie Markt, auf dem man von der WBKA herausgegebenen Auslöschungszertifikate kaufen und wieder verkaufen kann, wenn man an der Auslöschung einer Spezies beteiligt ist. Vorbild ist der Emissionshandel mit CO2-Zertifikaten.

Ned Beaumans dystopischer Roman spielt in einer nahen Zukunft, Ende der 2020er Jahre. Nach der Lektüre ist man geneigt zu stöhnen, ach, waren das Zeiten, als Science-Fiction sich noch mit Robotern als nette Helferlein, Reisen ins All und Begegnungen mit vernunftbegabten Wesen beschäftigte. Visionen der Vergangenheit. Die Zukunft hat längst begonnen – und sie sieht düster aus.

Beide Hauptfiguren, Karin Resaint und Mark Halyard, gehören auf jeweils unterschiedliche Weise zu einem neu entstandenen Wirtschaftszweig: der Extinktionsindustrie. Sie arbeitet als selbständige Meeresbiologin, deren Aufgabe es ist, Spezies, die unmittelbar vor der Ausrottung stehen, daraufhin zu überprüfen, ob es sich bei ihnen um eine intelligente Art handelt. Er ist Umweltverträglichkeitskoordinator bei der Brahmasamudram Mining Company, die im Tiefseebergbau tätig ist und Ferromanganknollen fördert. Die Intelligenzcheckerin hat den Auftrag, herauszufinden, wieviel Grips der Gemeine Lumpfisch (Cyclopterus vulgaris) aus der Familie der Seehasen besitzt.

Bevor Resaint jedoch ihre Forschungsergebnisse veröffentlichen kann, hat Halyards Company unglücklicherweise durch eine fehlerhafte Programmierung der Förderroboter das einzig verbliebene Habitat des »intelligentesten Fisches des Planeten« in der Ostsee zerstört. Zuvor hatte er von seinem Brotherr sieben Lumpfischzertifikate auf sein Privatkonto umgebucht, sich jedoch mit den Leerverkäufen – er setzte auf fallende Preise – gründlich verspekuliert.

In Biobanken gespeicherte Genomdaten und Gewebeproben werden gehackt und gestohlen, davon betroffen ist auch der »hässliche kleine Scheißer mit fiesem Gebiss«, so Halyard über den Gemeinen Lumpfisch, bevor er das ­wahre Ausmaß des Hackerangriffs ­erkannte. Ohne DNA-Informationen ist eine »Wiedergeburt« des Fisches nicht mehr möglich, selbst wenn zukünftige Technik dazu in der Lage wäre. Der Preis für Auslöschungszertifikate des Cyclopterus vulgaris verzehnfacht sich. Jetzt hat Halyard ein gewaltiges Problem.

Zusammen mit Resaint sucht er verzweifelt nach einem möglichen Ort, an dem sich noch ein paar Exemplare befinden könnten. Sie will den Fisch retten, er seinen Hintern. Die Story nimmt gewaltig Fahrt auf. Eine skurrile Suche beginnt, führt kreuz und quer durch Nordosteuropa. Sie treffen auf eine »Meerjungfrau«, mit der sie kooperieren müssen, die jedoch ihren eigenen Plan verfolgt.

Ned Beauman wechselt in seinem fabelhaften Roman, der gespickt ist mit aktuellen politischen Anspielungen, immer wieder die Perspektive, im Plauderton als Erzähler, sarkastisch in den Dialogen. Er überrascht mit zahlreichen Wendungen und Volten. Und verhandelt grundlegende Fragen unserer Zeit: Klimawandel, Artensterben, technikgetriebene Lösungen aller Probleme. Die künstliche Intelligenz wird es schon richten. Oder etwa nicht? Der Autor zündet ein Feuerwerk bizarrer Einfälle. So verändert eine Pilzinfektion, hervorgerufen durch eine Zoonose, die Physiognomie der Infizierten und lässt auch die ausgeklügelteste Gesichtserkennungssoftware im dunkeln tappen.

Ned Beauman: Der gemeine Lumpfisch. Aus dem Englischen von Marion Hertle. Liebeskind-Verlag, München 2023, 368 Seiten, 24 Euro

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