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Aus: Ausgabe vom 18.04.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Eine sanfte Orgie

Sehen, riechen, hören: Alice Rohrwachers synästhetischer Grabräuberfilm »La Chimera«
Von Maximilian Schäffer
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Egal, wie depraviert die Leute sind, sie wissen immer gut auszusehen – und sie wissen anständig zu essen und zu trinken

»La Chimera«, der neue Film von Alice Rohrwacher, ist ein wahrhaft traumhafter. In unterschiedliches analoges Filmmaterial gekleidet – 35 mm, Super 16 und 16 mm – taucht die Story um den Grabräuber Arthur (Josh O’Connor) in die Tiefen des Bewusstseins ab. Arthur und seine Truppe von »Tomberoli« heben in einer schwülen Toskana der 1980er alte Etruskergräber aus. Arthur ist Engländer, er wirkt wie ein Gestrandeter auf einer einsamen Insel. In einem Wellblechverschlag an der Stadtmauer haust er in bitteren Verhältnissen, gerade wurde er aus dem Knast entlassen. Ständig halluziniert er in die Tage hinein – von Beniamina, seiner verlorenen Liebe. Und von den Standorten der unterirdischen Totenstätten, die er mit einer Wünschelrute treffsicher channelt.

Von fröhlicher Armut gezeichnet sind beinahe alle Figuren in »La Chimera«. Die Freunde, die sich mit der illegalen, unmoralischen Flohmarktarchäologie über Wasser halten. Eine Liebhaberin namens Italia (Carol Duarte), die sich heimlich um zwei Kinder kümmern muss. Selbst die landadlige Mäzenin Flora (Isabella Rossellini) verfällt mit ihrer ausladenden Villa. Als Zuschauer bleibt einem nichts anderes übrig, dies als italienischen Zauber zu begreifen. Egal, wie depraviert die Leute sind, sie wissen immer gut auszusehen – und sie wissen anständig zu essen und zu trinken.

Bis auf Arthur – der magert zusehends ab. Briten haben bekanntlicherweise keinen Bezug zu Essen als höherer Kulturleistung. Verwechseln Speise und Nahrung. Auch seine Liebhaberinnen verwechselt Arthur emotional, bei Italia findet er Freundschaft und Zärtlichkeit, die Erotik bleibt ihm innerlich verwehrt. Viel interessanter als die psychologischen Ebenen im Film sind jedoch die historischen. Hier werden Menschen abgebildet, die es so nicht mehr gibt. Schicksalsgemeinschaften in Klasse und Kultur, die sich gegenseitig den Kopf stützen müssen. Laue Sommerfeste auf dem Dorf mit Folklore und bunten Cocktails. Nach Proraso und Schweiß stinkende Machos in zu engen Hemden. Stinkende historische Altstädte, von Zwei-, Drei- und Vierrädern ohne Katalysator verschmutzt. »La Chimera« ist ein synästhetischer Film, man kann ihn sehen, spüren, riechen und hören. Ein Barde besingt nebenbei die Abenteuer der Grabräuber. Wenn die Carabinieri kommen. Wenn sie ihre Beute zu einer futuristischen Tierarztpraxis bringen. Wenn Erpressungsversuche kläglich scheitern. Manchmal läuft auch Kraftwerk.

Worum es in diesem Film wesentlich geht, ist absichtlich nicht so leicht festzustellen. Lässt man sich nicht von den Werbereferenzen auf »Indiana ­Jones« (ent-)täuschen, ist man als frühsommerentspannter Kinogänger aber 130 Minuten lang gut aufgehoben, eingehüllt in eine sanfte Orgie aus echter, körniger Kinematografie.

Nach den großen Kritiker- und Festivalerfolgen »Land der Wunder« (2014) und »Glücklich wie Lazzaro« (2018) schließt Alice Rohrwacher ihre Trilogie über das Landleben melancholisch ab. Wie auch nicht, angesichts einer so physischen, geselligen, trostvollen, bittersüßen Welt, die längst verblichen ist.

»La Chimera«, Regie: Alice Rohrwacher, Frankreich/Italien/Schweiz 2023, 133 Min., bereits angelaufen

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