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Aus: Ausgabe vom 27.03.2024, Seite 12 / Thema
Begriffsschindluderei

Waffe der »Staatsräson«

Antisemitismus und politischer Diskurs. Zur Entgrenzung eines Begriffs
Von Gerhard Hanloser
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Mit den offiziellen Verhaltensvorgaben dieses Staates nicht einverstanden. Teilnehmer auf einer propalästinensischen Demonstration in Berlin am 4. November 2023

Aus Gründen deutscher Schuld ist es »Staatsräson« Deutschlands, sich bedingungslos hinter Israel zu stellen. Mit diesem Bekenntnis von 2008 übertraf Angela Merkel (CDU) noch die proisraelische Staatspolitik ihrer Vorgängerregierungen. Israel-Solidarität zählt seit Konrad Adenauers sogenannter Wiedergutmachungspolitik und dank der Medienmacht des Springer-Konzerns zum Kerngeschäft der BRD, auch wenn man sich gerne die ölreichen Kontrahenten des jüdischen Staates warm hielt und Geschäfte pflegte.

Zu Beginn des israelischen Kriegsunternehmens im Gazastreifen zeigte sich in Statements von Politikern und in der Medienberichterstattung, was »Staatsräson« konkret und unter Federführung einer grünen Außenpolitik bedeutet: Der israelischen Regierung wurde nach dem terroristisch organisierten Hamas-Ausbruch aus Gaza, der von Greueltaten begleitet war, eine Art Blankoscheck ausgestellt, alles zu tun, um ihre Definition von Sicherheit durchzusetzen. Die in Teilen rechtsradikale israelische Regierung setzte auf einen mit Massenbombardements und Vertreibungen verbundenen Krieg. Das erklärte Ziel lautet, die Hamas zu zerschlagen. Dieser Krieg traf und trifft allerdings in erster Linie die Zivilbevölkerung des dicht besiedelten Gebiets zwischen Israel, Ägypten und dem Mittelmeer. Gebetsmühlenartig wurde bekundet, man stehe an der Seite Israels. Das ostentative Entsetzen über die Massaker vom 7. Oktober ist zum wohlfeilen Sprachmodul geronnen, das jedem abverlangt wird, der sich zur Sache äußert.

Selbst Kontextualisierung – was ja nur bedeutet, dass man ein Ereignis in eine Struktur einbettet, um es verstehbar zu machen – wurde zuweilen als höchst unanständig, politisch inkorrekt, wenn nicht sogar als »relativierend« markiert. Eine sich über lange Jahre aufbauende Diskursfigur wird dabei jedoch in einem Maße inflationär in Stellung gebracht, dass selbst kritische Beobachter der bundesrepublikanischen Feindbestimmungen überrascht sind: der linke oder propalästinensische »Antisemit«. Und dies in einer Zeit, in der tatsächlich antisemitische Straftaten sprunghaft zunehmen – von Schändungen von Holocaustgedenkstätten bis zu Angriffen auf Synagogen.

Zwar war mit dem Vorwurf des Antisemitismus bereits die sich ab 1967 propalästinensisch bis antizionistisch positionierende Neue Linke konfrontiert. Doch diese Vorhaltungen kamen weitgehend von einem rechtskonservativen oder rechtsliberalen Milieu rund um die Springer-Presse. Widerhall in der Politik fanden solche Etikettierungen kaum. Das hatte sicherlich damit zu tun, dass in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit und Politik lange Jahre Antisemitismus und das deutsche Verhältnis zu Juden tabuisiert waren. Struktur und Geschichte des Antisemitismus wurde in den späten 70ern und den 80er Jahren deshalb vornehmlich ein Thema linker Intellektueller wie Dan Diner, Micha Brumlik oder Detlev Claussen. Hier wurde ernsthaft Theorie betrieben, aufgrund des historischen Wissens über das Wirken des Antisemitismus auf allzu große Staatsnähe verzichtet, und da man mit Theodor W. Adorno wusste, dass Antisemitismus das Gerücht über die Juden ist, wollte man selbst keine Gerüchte in die Welt setzen.¹

Gesinnungskontrolle

Davon ist wenig übrig geblieben. Antisemitismusvorwürfe sind mittlerweile eines der beliebtesten Herrschaftsinstrumente geworden, um deutliche Kritik an Israel zu unterbinden. Wichtige mediale Instanzen mit einflussreichen Leitartiklern und Kommentatoren spielen darin eine wesentliche Rolle. Es existiert eine große, parteienübergreifende Koalition in der Politik, bei der auch eine Brandmauer zur AfD nicht zu erkennen ist. Besonders auffällig ist das Wirken der vom Bundesministerium des Innern 2018 neu installierten Antisemitismusbeauftragten. Sie agierten in der Vergangenheit am Rand der Verfassungswidrigkeit, beispielsweise mit ihren Versuchen, Meinungsfreiheit und Demonstrationsfreiheit einzuschränken. Wurden in Deutschland bereits vor dem 7. Oktober Demonstrationen von Palästinensern oder sich mit ihnen solidarisierenden Menschen verboten oder von der Polizei aufgelöst und die Teilnehmer schikaniert oder attackiert, so fand eine Radikalisierung dieser Politik de facto mit der kriegerischen Eskalation in Nahost statt. Demonstrationen gegen den Krieg Israels standen von vorneherein unter Antisemitismusverdacht. Selbst der sehr allgemeine und erst konkret zu füllende Ausruf »Free Palestine« wurde neben anderen Demonstrationsparolen über eine lange Kette von Ableitungen und Unterstellungen in den Bereich des Antisemitischen oder gar Rechtswidrigen gerückt.

Die Antisemitismusbeauftragten agieren zuweilen, als hätten sie von Antisemitismus kaum einen Begriff, und müssten eher den Titel Israel-Beauftragte der Bundesregierung tragen. So zog Nordrhein-Westfalens Beauftragte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im November 2023 in Erwägung, Proteste von Ausländern gleich ganz zu verbieten. Schließlich, so ihre Argumentation, würde ein Demonstrationsrecht im Grundgesetz nur Deutschen zustehen. Sie verwies auf propalästinensische Demonstrationen, auf denen hier und da auch antisemitische Parolen zu vernehmen waren. Abgesehen davon, dass die Landesverfassungen und das Versammlungsgesetz des Bundes von 1953 das Versammlungsrecht auf »alle Frauen und Männer« zum »Jedermannsrecht« ausweitete, stellt sich die Frage, welcher Antisemitismustheorie ein solcher Vorschlag zugrunde liegt. Wer ausgerechnet die Staatsangehörigkeit von Teilnehmerinnen und Teilnehmern einer Demonstration zum Unterscheidungsmerkmal erheben will, um Antisemitismus zu bannen, kann sich beispielsweise auf Hannah Arendt kaum berufen, die genau solche Diskriminierungen und Ausschlüsse aus dem Status des bürgerlichen Rechts als konstitutiv für die Dynamisierung des Antisemitismus im 20. Jahrhundert erachtete.

»In Arendts Sinn ist Felix Klein ein Ideologe«, schreibt Amos Goldberg passenderweise über den obersten Antisemitismusbeauftragten. Goldberg ist nicht irgendwer, er ist Professor für Holocaustgeschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem. Er begründet am 23. August 2023 in der FAZ dieses Urteil mit Kleins pauschaler Ablehnung und Skandalisierung des Apartheidbefunds, wenn es um Israel geht. Klein versuche gar nicht erst, das Argument zu widerlegen, schreibt Goldberg, dass Israel Apartheid praktiziert. »Er erklärt einfach, dass Apartheid dem ideologischen Verständnis eines ›jüdischen Staates‹ zuwiderlaufe und entsprechende Vorwürfe daher antisemitisch seien. Was würde er sagen, wenn gezeigt werden kann, dass Israel ein Apartheidstaat ist? Dass die politische Realität in den besetzten Gebieten und selbst innerhalb Israels den Kriterien entspricht, wie sie im Völkerrecht definiert werden, also im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, das im Jahr 2000 auch von Deutschland ratifiziert wurde?«

Klein und andere Antisemitismusbeauftragte auf Länderebene waren bereits anlässlich der zum Skandal gemachten Documenta in Kassel und der Konstruktion des afrikanischen Intellektuellen Achille Mbembe zum »Israel-Hasser« Akteure eines wenig rationalen Diskurses. Ihr Agieren könnte als staatliche Identitätspolitik beschrieben werden. Wird gemeinhin linker und aktivistischer Identitätspolitik vorgehalten, sie unterlaufe einen aufklärerischen Diskurs, rekurriere auf eine eigene Definitionsmacht und trachte danach, den politischen Gegner zu »canceln« und zum Schweigen zu bringen, so gelten diese Bestimmungen allesamt für das Agieren einschlägiger Antisemitismusbeauftragter und ihrer Stäbe.

So kommt Michael Meyen, Professor für Allgemeine und Systemische Kommunikationswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München, in seiner Analyse der medial überhöhten und konstruierten Antisemitismusskandals um Achille Mbembe zu dem Ergebnis: »In Deutschland genügt der Vorwurf des Antisemitismus, um einen Redner und seine Position aus dem Raum des Sagbaren zu verbannen – aus der Sphäre, die mit öffentlichen Geldern finanziert wird und damit einen besonderen Anspruch auf Legitimation garantiert.«² Dabei spiele es auch keine Rolle, dass die entsprechenden Vorwürfe angreifbar seien und von den Betroffenen selbst vehement bestritten würden.

Die Kette von interessengeleitetem Lancieren eines Gerüchts bis zur auf Unterbindung zielenden Intervention staatlicher Institutionen auf Kultur- oder Politveranstaltungen zeigt an, dass die Antisemitismusbeauftragten eine tragende Rolle in der Schnittstelle von identitärer Moral- und staatlicher Interessenpolitik spielen. Linksaktivistische Identitätspolitik, wie beispielsweise jene propalästinensische Störaktion im Hamburger Bahnhof Mitte Februar 2024, als eine Hannah Arendt-Lesung von einer 20köpfigen Gruppe gekapert wurde, um auf den ihres Erachtens laufenden »Genozid« in Gaza aufmerksam zu machen, mag man politisch teilen oder abwegig finden, sie hat allerdings im Unterschied zu der Definitionsmacht der Antisemitismusbeauftragten keine insti­tutionelle Deckung, folglich weit weniger reale Macht im Rücken.

Vorwurf: Israel-Hasser

Israels Krieg im Gazastreifen dauert mittlerweile fast ein halbes Jahr. Die Opferzahlen sind hoch. Alle Bewohner des Gazastreifens scheinen in den vollständig rechtlosen Zustand gerückt worden zu sein, jederzeit getötet werden zu können. Nachdem dieser Umstand monatelang nicht ins Medienkonsumentenbewusstsein rücken durfte, könnte die Sendung von Markus Lanz am 5. März einen kleinen Umschwung dargestellt haben, als dort der junge Palästinenser Abed Hassan eindrucksvoll von seiner Erfahrung aus der Vernichtungszone namens Gaza berichtete.

Auch wenn jüngst, da selbst der US-Präsident Joseph Biden die Kriegführung des Kabinetts Benjamin Netanjahu kritisiert, von der deutschen Bundesregierung konzediert werden muss, dass die Lage der zum Teil hungernden Bevölkerung in Gaza unbeschreiblich ist, ringt sie sich nicht dazu durch, die Völkermordanklage Südafrikas gegen Israel vor dem Hintergrund der verweigerten Hilfe und der systematischen Unterversorgung in Gaza positiver einzuschätzen oder gar zu unterstützen. Ganz im Gegenteil verlegt man sich auf hilflose Versuche, Proteste gegen den Krieg in Gaza in einem längst globalisierten Kulturbereich zu unterdrücken oder am liebsten zu kriminalisieren.

Auch hier findet ein Wechselspiel von einflussreichen Medien und offizieller Politik statt. Als sich auf der Berlinale im Februar 2024 Stimmen gegen den eskalierten Krieg in Nahost erhoben, die Waffenstillstand und ein freies Palästina forderten, ertönte stante pede der Antisemitismusvorwurf als Antwort. Aus dem Schweizer Ausland lieferte der NZZ-Redakteur Alexander Kissler die Stichworte für das konservative und liberalkonservative Spektrum, als er die Berlinale schlicht zu einem »Klassentreffen der Israel-Hasser« erklärte. Die etwas feinere Feder führte FAZ-Redakteur Jürgen Kaube: Es gehe den protestierenden Künstlern im Grunde gar nicht um Empörung über ein strafloses massenhaftes Töten, ihre Palästina-Solidarität liege vielmehr »in der besonderen Funktion der Palästinenser im intellektuellen Diskurs«. Diese seien nämlich seit langem schon eine Nachfolgefigur für das Proletariat. Über ihre intellektuelle Unterstützergruppe schreibt er: »Selbst durchaus bourgeois sich im Milieu der Galerien, Literaturhäuser, Rundfunkanstalten und Universitäten bewegend, hatte sie stets den Anspruch, für die Befreiung der Geknechteten zu kämpfen, so unwahrscheinlich es auch war, dass zu solcher Befreiung Kunstwerke, Essays und offene Briefe einen Beitrag leisten könnten.« Nun möchte man Kaube lieber nicht fragen, was er in der »Zeitung für Deutschland« schriebe, wenn die Künstler zu anderen Mitteln denn zu künstlerischen griffen, ist ihm doch bereits die Boykottbewegung BDS eine antisemitische Zumutung und gilt jede Erwägung eines Rechts auf Widerstand der Palästinenser als terroristisch oder antisemitisch. Im Zweifelsfall beides. Man würde ihn wahrscheinlich auch völlig vergebens darauf aufmerksam machen, dass in der antisemitischen Wahrnehmung schon immer Juden, Literaten, Künstler, Linke und Pazifisten zu einem einzigen Feindbild amalgamierten.

Für Bundesjustizminister Marco Buschmann (FPD) ist die Berlinale beschädigt worden: »Antisemitismus ist unerträglich und kann keinen Platz haben«, verlautbarte er auf X (Twitter). Die Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) meinte, der Abend der Preisverleihung sei von tiefem Israel-Hass geprägt. Auf Nachfragen auf der Regierungspressekonferenz am 28. Februar 2024 konnte jedoch nicht erklärt werden, um welche Aussagen es auf der Berlinale denn genau gehe, und was aus welchen Gründen als »antisemitisch« zu bezeichnen wäre. Gemeint dürften wohl Yuval Abraham und Basel Adra sein. Der israelische und der palästinensische Regisseur hatten sich für einen Waffenstillstand ausgesprochen, geehrt wurden sie mit dem Dokumentarfilmpreis für ihren Film »No Other Land«, in dem die Brutalität der israelischen Besatzung im Westjordanland gezeigt wird. In einer der letzten Einstellungen ist zu sehen, wie ein unbewaffneter Dörfler von einem Siedler erschossen wird.

Dass ihr Urteilsvermögen über das Agieren Israels eher von dieser Erfahrung geprägt ist als von der Suche nach einem Ersatzproletariat, mag nur ein Kaube bestreiten. Zum Lachen ist diese Posse freilich nicht. Abraham kommentierte die Farce auf X damit, dass er nach den Antisemitismusvorwürfen deutscher Politiker und Medien zahlreiche Morddrohungen aus Israel erhalten habe. Er sehe darin einen entsetzlichen Missbrauch dieses Wortes durch Deutsche. Sie würden nicht nur versuchen, palästinensische Kritiker Israels zum Schweigen zu bringen, sondern auch Israelis wie ihn, die einen Waffenstillstand unterstützen, der das Töten in Gaza beenden und die Freilassung der israelischen Geiseln ermöglichen würde. Gerade Deutsche würden somit das Wort Antisemitismus in seiner Bedeutung entleeren und damit Juden in der ganzen Welt gefährden.

Kriminalisierung der Kritik?

Diese Einsprüche werden kaum auf offene Ohren bei denjenigen Hardlinern im Pro-Israel-Diskurs stoßen, die den Antisemitismusvorwurf lediglich als Mittel einsetzen, um Kritik an Israel abzuwehren. Mittlerweile sind im Zuge einer Neujustierung des Konzeptes der »Wehrhaften Demokratie« unter Innenministerin Nancy Faeser (SPD) immer lautere Stimmen zu vernehmen, die sich nicht länger mit der medialen und öffentlichen Denunziation von Israel-Kritik als Antisemitismus begnügen, sondern jene – die Kritik Israels – als diesen – den Antisemitismus – juristisch ahnden wollen.

Nun ist Antisemitismus wie Sexismus oder Rassismus eine individuelle Disposition, hervorgerufen durch gesellschaftliche Bedingungen, kriminell im juristischen Sinn sind diese Dispositionen nicht. Folgt aus diesen Einstellungen eine strafbare Handlung, so gibt es aktuell genügend juristische Mittel, wirkliche Verstöße zu ahnden. Zu klären wäre allerdings tatsächlich der Beweggrund einer Straftat. Bundesweit folgte dem Angriff auf den jüdischen Studenten Lahav Shapira in Berlin eine aufgeregte Debatte über den Umgang mit dem mutmaßlichen Täter. Für Politik und Medien konnte der tätliche Angriff durch einen propalästinensischen Aktivisten in Berlin-Mitte nur aus einem resultieren: Judenhass und/oder Antisemitismus. Dass dem Angriff politische Auseinandersetzungen vorausgingen, wird gerne in diesen schnellen Beurteilungen unterschlagen. So hatten mit israelischen Fahnen auflaufende Pro-Israel-Aktivisten den im Unikontext gegen den Krieg in Gaza protestierenden propalästinensischen Kommilitonen entgegenschleudert: »Hört gut zu, ihr Terroristen. Mögen eure Dörfer brennen!« Die Leitung der Freien Universität Berlin (FU) unter Präsident Günter Ziegler hatte Strafanzeige wegen Gewaltverherrlichung gestellt.

Während der vermeintliche Antisemitismus von propalästinensischen Aktivisten oftmals über Hilfskonstruktionen hergestellt werden muss, wie jener vom »israelbezogenen Antisemitismus« oder einem »Antisemitismus gegen Israel«, findet sich hier ein recht klares Beispiel einer gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Ins mediale und öffentliche Bewusstsein darf dies jedoch nicht in vergleichbarer Weise wie ein gegen Israel gerichteter Hass rücken, den es sicherlich unter Aktivistinnen und Aktivisten gibt. Über diese aggressiven Provokationen der proisraelischen Uniaktivisten gab es mithin eine weit geringere Berichterstattung. Dies lag sicherlich nicht nur daran, dass das Erschrecken über die durch nichts gerechtfertigte Gewaltattacke eines propalästinensischen Aktivisten auf einen proisraelischen Aktivisten alles andere überstrahlte. Es geht um mehr: Obwohl das Strafrecht sowie Hausverbote in ausreichendem Maße Mittel zum Schutz von Opfern von Gewalt abgeben, soll das Sanktionspaket erweitert werden, indem eine Exmatrikulation des vermuteten Straftäters ins Spiel gebracht wird. Besonders laut wird diese von der AfD gefordert. Juristen sehen eine Exmatrikulation als problematisch und als kaum rechtlich tragfähig an, die Asten der Technischen Universität Berlin, der Humboldt-Universität zu Berlin und der FU haben sich deutlich dagegen ausgesprochen. Nicht zuletzt, weil gerade für internationale Studierende das Visum an ihre Immatrikulation gebunden ist. Der Fall Shapira und der Ruf nach Exmatrikulation ist nur ein Beispiel, wie sich Behauptungen von Antisemitismus und eine restriktive und repressive Strafverfolgungspolitik funktional ergänzen.

Jahrzehntelang haben Antifaschistinnen und Antifaschisten daran festgehalten und bekräftigt, dass Faschismus keine Meinung ist, sondern ein Verbrechen. Das gleiche gilt für den Antisemitismus. Er mag auf der Subjektseite auf charakterliche und psychologische Unzulänglichkeiten verweisen, tritt zuweilen besonders bei »autoritären Persönlichkeiten« auf, folgt man Adorno. In Krisenzeiten hat er Konjunktur, weil er Welterklärungsanspruch besitzt und mit einem Verschwörungssyndrom verbunden ist – was auch während der Coronakrise zu beobachten war. Nach dem Holocaust ist deutlich artikulierter Antisemitismus Aufruf zum Judenmord. Er muss gesellschaftlich bekämpft und geächtet werden – und aktuell muss dieser Kampf sicherlich innerhalb muslimischer Communities, die zuweilen Predigten ihrer Imame mit antisemitisch-verschwörungstheoretischem Zungenschlag ausgesetzt sind, mit aller Kraft und Entschiedenheit geführt werden.

Mittlerweile geht der staatliche Diskurs allerdings so weit, eine Antisemitismusklausel in das Grundgesetz als ergänzende Staatszielbestimmung aufzunehmen. Wenn das Grundgesetz im antifaschistischen Geiste gehalten ist, wie der sozialistische Staatsrechtler Wolfgang Abendroth meinte, stellt sich die Frage, warum eine solche Bekräftigung nötig ist. Das Grundgesetz formuliert in erster Linie Freiheitsrechte der Bürger gegenüber einem Staat, dessen totalitäre Übergriffigkeit nachhaltig eingedämmt werden soll. Ob dies auch für eine neue verfassungsrechtliche Wegmarke des Antiantisemitismus gälte, kann bezweifelt werden.

Grenzen der Definition

Zweifel müssten auch gegenüber aktuellen Bemühungen aufkommen, Antisemitismus als solchen in den Bereich des Kriminellen zu schieben. Der Volksverhetzungsparagraph reicht juristisch vollkommen aus, um wirkliche antisemitische Propaganda zu unterbinden. Bei einer juristischen Ahndung von »Antisemitismus« müsste genau überprüft werden, mit Hilfe welcher Definition denn ein vermeintliches Delikt als »Antisemitismus« gewertet und kriminalisiert werden soll. Juristen brauchen eine klare Definition, die aber nicht so einfach zu haben ist, nicht zuletzt, weil vornehmlich rechtskonservative Israel-Apologeten ihre Antisemitismusdefinition als Schutzschild vor Israel-Kritik gebrauchen.

Der sogenannte 3-D-Test, den der israelische Politiker und Wissenschaftler Natan Scharanski entwickelt hat und demzufolge bei Dämonisierung, Delegitimation und Doppelstandard antisemitische Sprechhandlungen und keine legitime Kritik an Israel vorliegt, ist alles andere als eine treffsichere Definition. Die Arbeitsdefinition, der sich auch die Bundesregierung angeschlossen hat, ist ebenfalls nicht geeignet, eine genaue Definition zu liefern. Die von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken, verabschiedete internationale Arbeitsdefinition lautet: »Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.« Die Bundesregierung hat außerdem folgende Erweiterung verabschiedet: »Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.« Allein die Tatsache, dass sich der Staat Israel selbst als »jüdisches Kollektiv« versteht, zeigt die Vagheit und Unbestimmtheit dieser Definition. In der Vergangenheit diente sie besonders dazu, linke und propalästinensische Stimmen des »Antisemitismus« zu überführen.

Nun mag die Jerusalemer Erklärung vom März 2021, die als Alternative zur IHRA-Erklärung verstanden werden soll, mit ihrer Bestimmung von Antisemitismus recht eng sein. Demnach ist Antisemitismus Diskriminierung, Vorurteil, Feindschaft oder Gewalt gegen Juden als Juden (oder gegen jüdische Institutionen als jüdische). Sie hat aber den klaren Vorteil, der Entgrenzung des Antisemitismusbegriffs und einem instrumentellen Antisemitismusvorwurf Paroli zu bieten. Chiffren des Antisemitismus – wenn beispielsweise der ehemalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen von »Globalisten« raunt oder sich antisemitische Rechtsradikale einer antizionistischen und israelfeindlichen Sprache bedienen – mögen von dieser Definition nicht erfasst werden. So verklebte die neofaschistische Partei »Die Rechte« im Europawahlkampf 2019 bundesweit ausgerechnet vor Synagogen Plakate, auf denen »Zionismus stoppen: Israel ist unser Unglück! Schluss damit!« zu lesen war. Welche Intention hinter solchen Sprechakten steht, ist allerdings leicht zu erkennen. Wenn auf einer Antikriegsdemonstration die Parole »Kindermörder Israel« laut wird, liegt der Befund »Antisemitismus« angesichts der Tatsache, das alle zehn Minuten ein palästinensisches Kind in Gaza stirbt, keinesfalls so leicht auf der Hand.

Anmerkungen

1 Ausnahmen bestätigen die Regel. Eine Ausnahme stellte sicherlich Micha Brumliks haltlose Markierung der Veröffentlichung »Nach dem Terror. Traktat über die Gewalt« des kanadisch-britischen Philosophen Ted Honderich als antisemitisch dar. Vielleicht eröffnete Brumlik selbst damit im Jahre 2003 eine Art der Diskussion, die er nun als neuen McCarthyismus zutreffend kritisiert.

2 Michael Meyen: Achille Mbembe, die Leitmedien und der Antisemitismusvorwurf. In: Matthias Böckmann, Matthias Gockel, Reinhart Kößler, Henning Melber (Hrsg.): Jenseits von Mbembe. Geschichte, Erinnerung, Solidarität, Berlin 2022, Metropol-Verlag, S. 105

Gerhard Hanloser ist Herausgeber des Sammelbands »Linker Antisemitismus?«, Mandelbaum-Verlag, Wien 2020, 304 Seiten, 24 Euro.

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  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude, Russland (28. März 2024 um 10:14 Uhr)
    Ich habe nur eine Frage: Was würde geschehen – mit den Redaktionschefs bzw. den Journalisten jedes deutschen Massenmediums, mit jedem Regierungsmitglied und jedem Abgeordneten, mit jeder im öffentlichen Leben stehenden Persönlichkeit, jedem Lehrer oder Bundeswehroffizier, wenn sie für den israelischen Ministerpräsidenten die gleichen Attribute verwenden würden wie für den russischen Präsidenten? Israel besetzt seit 75 Jahren widerrechtlich fremde Territorien. Über die Art der Kriegsführung, die Behandlung von Flüchtlingslagern und Diskriminierung der Opposition im eigenen Land einschließlich Inhaftierungen tausender Palästinenser ohne Gerichtsurteil ist genügend bekannt. Außerdem sind die grauenerregenden Zahlen der Opfer im Zweiten Weltkrieg bekannt: 6 Millionen Juden und je nach Schätzung 24 bis 27 Millionen Bürger der UdSSR. Die sogenannte Wiedergutmachung bzw. Staatsräson war von Anfang an so einseitig, dass man sie nur als von politischen Interessen gesteuerte Heuchelei bezeichnen kann. Was ist es denn anderes als eine erneute Form von Rassismus, den man angeblich gerade wiedergutmachen möchte, den Begriff der Staatsräson dann nicht auch auf Russland anzuwenden, ja das Gegenteil zu tun? Wer wäre hier noch im Amt, wenn den Vertretern Russlands auch nur verbal die gleiche Unterstützung gegeben würde wie den Vertretern Israels? Da würden auf einen Schlag ein paar Hunderttausend neue Stellen ausgeschrieben werden. Kein Stein in den Redaktionen bliebe bei Mitarbeitern der Seite Politik auf dem anderen. Putin und Russland sind vogelfrei, zur Hetze jeglicher Art freigegeben (…). Man macht in Deutschland nichts wieder gut, weil man solche Taten sowieso nicht gut machen kann. Schlimm ist allerdings dann noch dieses zweierlei Maß.

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