junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Montag, 29. April 2024, Nr. 100
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!

Tätertöchter

Von Helmut Höge
Helmut_Hoege_Logo.png

Hat die Westberliner Kommune I 1968 wirklich eine »Dackelverbrennung« auf dem Kurfürstendamm angekündigt, aus Protest gegen den Vietnamkrieg – was beinahe ein Pogrom der »Schultheiß-Berliner« gegen die »herzlose Linke« in der Fronstadt zur Folge hatte? Ich finde dazu keine Hinweise, wohl aber, dass Günter Grass am 19. Juli 1969 auf dem Evangelischen Kirchentag in Stuttgart aus seinem Roman »örtlich betäubt« vorlas, eine Stelle, in der ein Schüler, Scherbaum, beschließt, aus Protest gegen den Vietnamkrieg seinen Dackel auf dem Kurfürstendamm zu verbrennen.

Auf dem Stuttgarter Kirchentag 1969 trat nach dem Vortrag von Grass ein Apotheker namens Manfred Augst an das Saalmikrophon. Er »redete wirr, stammelte, verhedderte sich in seinen Satzfetzen. Menschen wie er, die vor 1945 an Deutschlands Größe geglaubt hätten, würden jetzt als ›Verbrecher‹ gebrandmarkt«, schimpfte Apotheker Augst. So fasste es Peter Hartwig Graepel zusammen¹, der 1968 von diesem angelernt worden war. Am Schluss wurde Augst wirre Rede jedoch klar: »›Ich werde jetzt provokativ und grüße meine Kameraden von der SS!‹« soll er laut Aufzeichnung ins Mikrophon gesprochen und »ein mitgebrachtes Glasfläschchen« ausgetrunken haben, woraufhin er zusammenbrach. Einer neben ihm stehenden Studentin habe er, so notierte es Grass nach dem Vorfall, noch fernab des Mikrophons erklärt: »Das war Zyankali, mein Fräulein.« Dann starb er.

Grass, der sich 1969 auf Wahlkampftour für Willy Brandt befand, unterbrach diese und besuchte die Familie des Apothekers Augst, der eine Frau und drei Söhne sowie eine kleine Tochter hinterließ. Der Schriftsteller nahm am Familientisch Platz. Dort setzte er sich auf den leer gewordenen Stuhl des Vaters und stellte Fragen. In seinem Buch »Aus dem Tagebuch einer Schnecke« (1972) berichtete er anschließend darüber: Augsts Söhne korrigierten die Erinnerungen der Mutter »aus drei Ecken« heraus. »Niemand wollte abwälzen oder schönfärben. (Es gab) (k)ein Vaterzusammensetzspiel oder Familiengericht am Wohnzimmertisch. Jeder Sohn ließ dem anderen sein (zugegeben) verwackeltes Bild. Man war sich einig, dass man ihn nicht gekannt habe, dass er fremd (und befremdlich) dazwischen gestanden sei, dass man erst jetzt, da der Druck nachlasse, über ihn nachzudenken beginne.«

2006 veröffentlichte Augsts Tochter Ute Scheub, inzwischen Journalistin, ein Buch über ihren Vater: »Das falsche Leben. Eine Vatersuche« Sie erzählt darin, wie ihre Mutter ihr die Todesnachricht überbrachte und sie sich zwingen musste, einige Tränen zu vergießen. Bis ihr Bruder ihr sagte, sie solle endlich damit aufhören. Jeder könne sehen, dass sie schauspielere. Scheub berichtet, und das ist vielleicht der unheimlichste Moment des Buches, vom Begräbnis ihres eigenen Vaters, bei dem sie »mit dem Lachen« kämpfte. »Ein unbändiger Wunsch zu lachen erschütterte das Mädchen beim Anblick des Sarges ihres eigenen Vaters.« Dies schrieb Volker Weidermann 2006 in der FAS.² Ich habe das Buch auch gelesen, es hat mich nur enttäuscht: Es ist weder eine gründliche Recherche noch eine hasserfüllte Abrechnung. Zudem befürchtete die Autorin, bei der Sichtung der Hinterlassenschaften ihres Vaters auf dem Dachboden auf weitere Leichen zu stoßen.

1 Peter Hartwig Graepel: Wirrkopf und Selbstmörder. Der Apotheker Manfred Augst in einem Roman von Günter Grass. In: Geschichte der Pharmazie, 60:4, 18. Dezember 2008, S. 61–65

2 Volker Weidermann: Das war Zyankali, mein Fräulein! In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19. Februar 2006, S. 26

2 Wochen kostenlos testen

Die Grenzen in Europa wurden bereits 1999 durch militärische Gewalt verschoben. Heute wie damals berichtet die Tageszeitung junge Welt über Aufrüstung und mediales Kriegsgetrommel. Kriegstüchtigkeit wird zur neuen Normalität erklärt. Nicht mit uns!

Informieren Sie sich durch die junge Welt: Testen Sie für zwei Wochen die gedruckte Zeitung. Sie bekommen sie kostenlos in Ihren Briefkasten. Das Angebot endet automatisch und muss nicht abbestellt werden.

Regio:

Mehr aus: Feuilleton