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Aus: Ausgabe vom 26.03.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Im Netz Der Sci-Fi-Film »Die Amitié« und die freundliche Krisenökonomie

Von Norman Philippen
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»Die Amitié kümmert sich nicht besonders um erzählerische Ökonomie. Im Gegenteil verfolgt das Projekt eher ein Konzept der Verausgabung der Inhalte.«

Treffen große Problemkomplexe auf kleinste Filmbudgets, kann das Ergebnis nicht nach Hollywood aussehen. Dass die virtuelle Welt der titelgebenden App Amitié noch um einiges grottiger als das Zuckerbergsche Metaversum geriet, ist daher kaum zu tadeln. Besser als die im Silicon Valley ausgeheckten digitalen Machtinstrumente oligopolistischer Ökonomie ist die Amitié allemal. Denn die App heißt nicht nur so, sie soll auch all jene Inferiore in aller Freundschaft vernetzen, die die Saftläden der Welt am Laufen halten und dafür wie Saftorangen ausgepresst werden.

So die polnische katholische Schwester Agnieszka (Sylwia Gola) und der aus Côte d’Ivoire kommende studierte Ökonom Dieudonné (Yann Mbiene), die sich im Bus nach Deutschland begegnen. Beide stehen für je eine der im Presseheft zum Film vermerkten »Fünf Krisen (und ihre freundlichen Lösungen)«. Sie für die zu lösende Krise um »Pflege, Glaube, Verstehen«, er für »Migration, Netzwerke, Wissen«. Dieudonné, der im Bus Frantz Fanons »Schwarze Haut, weiße Masken« liest, ist Agnieszka (Lektüre »Gott segne dich, Afrika« von Papst Johannes Paul II.) im weltlichen Wissen voraus. Der Sohn eines Tomatenbauers ist bereits Teil des Amitié-Netzwerks. Zur Migration und Arbeit in einer Biotomatengroßgärtnerei ist er dennoch gezwungen. So wie Osman, der – »Die Amitié hat mich geschickt …« – beide vom Lübecker Hauptbahnhof abholt. Auch er arbeitet bei der Gärtnerei, während Agnieszka als Pflegerin des dementen Siegfried (Walter Hess) – Krisenkomplex »Alter, Verantwortung, Vergessen« – angestellt wird. Von Siegfrieds Sohn Carsten (Christoph Bach) – »Pendeln, Institutionen, Lehrversuche« –, der in Stuttgart schöngeistiger Professor ist. Wurde die Schwester von ihrem Orden auf Selbstausbeutungsmission geschickt, kam Dieudonné wegen der Krise um »Tomaten, Dosen, Blut oder rote Farbe«. Er ist einer jener »wirklichen Gespenster des Kapitals«, denen der Export subventionierter EU-Tomaten nach Afrika die Lebensgrundlage nimmt. »Nehmen wir die Gespenster um uns herum wahr, an den Hauptbahnhöfen der Städte, in den Küchen der Restaurants und in der Landwirtschaft? Die Tomate ist, wie sonst rote Farbe im Film, ein sichtbares Zeichen für die Gewalt unsichtbarer Zusammenhänge«, erklärt hierzu das Amitié-Kollektiv.

Diese sichtbar zu machen, ist selbst für ein kollektiv verfasstes Drehbuch (zu) viel Stoff. Jedoch: »Die Amitié kümmert sich nicht besonders um erzählerische Ökonomie. Im Gegenteil verfolgt das Projekt eher ein Konzept der Verausgabung der Inhalte …« Nun, es soll ein Science-Fiction-Film sein, und »Realität ist das, was aus der Erzählung ausbricht.« Ob die modernen Sklaven reelle Chancen haben, kraft virtuell vernetzter Freundschaft für eine bessere Arbeitswelt zu sorgen, bleibt ungewiss. Dass das Amitié-Kollektiv am Ende vielleicht nicht ganz naiv an die Möglichkeit einer Weltrettung per VR-App glaubt, legen Agnieszkas Schlussworte nahe. »Nicht der Tod beendet den Traum. Sondern die Wirklichkeit beendet den Traum. Es gibt nur das hier, die Welt, sonst nichts. Und wir sind da drin und sehen zu«, sagt sie nämlich.

»Die Amitié«, Regie: Ute Holl und Peter Ott, BRD 2023, 102 Min, bereits angelaufen

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