junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Sa. / So., 27. / 28. April 2024, Nr. 99
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 26.03.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Ortsnamen, Namen überhaupt

Filmgeschichte, Bankraub und argentinische Verhältnisse: Rodrigo Morenos Spielfilm »Die Missetäter«
Von Holger Römers
11.jpg
Überwachen und Strafen: Die tägliche Fron in der Bankfiliale

Sich ein Vierteljahrhundert Lohnarbeit ersparen zu können, ist den Preis von dreieinhalb Jahren Gefängnis allemal wert. Das findet zumindest der Protagonist von »Die Missetäter«, der tapsige Bankangestellte Morán (Daniel Eliás). Er kalkuliert, dass er 325.000 US-Dollar verdienen würde, falls er bis zur Rente täglich hinterm Geldschalter stünde. Diese Fron will der glatzköpfige Junggeselle vermeiden, indem er die doppelte Summe aus dem Tresorraum stiehlt – auch wenn er sogleich von Überwachungskameras erfasst und schnell zur gesetzlich vorgesehenen Haftzeit verurteilt werden wird. Die altertümlichen Dienstabläufe machen ihm den Diebstahl allerdings denkbar leicht, weshalb seine Anspannung während der Tat geringer ist als danach – und weshalb das Publikum wohl erst, wenn der Mann nervös durch die Innenstadt von Buenos Aires eilt, begreift, dass sein wunderbar unspektakulärer Coup schon vollendet ist.

Das heißt wiederum, dass Rodrigo Moreno, von dessen Filmen nur »Der Leibwächter« 2007 einen deutschen Kinostart hatte, bei seiner vierten (alleinigen) Spielfilmregie alle Regeln des Heist-Movie-Genres mit schönster Gelassenheit unterläuft. Dazu gehört auch, dass der kriminelle Plan, den das Drehbuch des Argentiniers peu à peu offenbart, ein verblüffendes Manko aufweist: Um die Unauffindbarkeit der Beute während des Gefängnisaufenthalts zu gewährleisten, weiß Morán nämlich keine bessere Lösung, als einen Kollegen (Esteban Bigliardi) gegen eine 50prozentige Beteiligung zur nachträglichen Komplizenschaft zu nötigen.

Dass diese zweite Hauptfigur Román heißt, was anagrammatisch den Namen der ersten spiegelt, lässt bereits spielerisch die Frage anklingen, inwieweit es möglich ist, sein Leben umzudrehen. Schon zu Beginn des Films wurde eine Bankangestellte durch identische Unterschriften zweier Kunden zu der Spekulation veranlasst, ob die beiden, ohne voneinander zu wissen, wohl das gleiche Leben führen. Inwieweit sind Biographien also in groben Zügen vorbestimmt, und sei es auch durch weniger vordergründige Faktoren als Name und Unterschrift – sondern etwa Geld?

Entsprechend muss es wie ein Omen wirken, dass Morán im Knast prompt seinem Chef wiederbegegnet – zumindest im übertragenen Sinne, da dessen Darsteller Germán de Silva auch einen Häftling verkörpert, der den Neuankömmling sogleich schikaniert. Román scheint indes ansatzweise eine Wandlung zu gelingen, nachdem er das Geld nolens volens an sich genommen hat. Bald eignet er sich eine Kaltschnäuzigkeit an, mit der er die Verdächtigungen einer Ermittlerin (Laura Paredes) trotzig pariert. Sobald er dann von Morán in ein Kaff in den Sierras de Córdoba geschickt wird, scheint die malerische Landschaft wiederum die Frage zu beantworten, die ein mehrfach angespielter argentinischer Blues-Rock-Song aus den 70ern aufwirft: Wo denn Freiheit zu finden sei. Allerdings ist Román für die Lebensentwürfe des Trios, dem er dort begegnet, nur bedingt empfänglich. Um so bezeichnender ist freilich, dass die Namen der zwei Schwestern (Margarita Molfino und Cecilia Rainero), die offenbar eine kleine Farm betreiben, sowie eines experimentellen Filmemachers (Javier Zoro Sutton), dem die beiden regelmäßig beim Drehen zur Hand gehen, dasselbe Anagramm variieren wie die Namen der Hauptfiguren.

Das Mäandern dieser launigen Handlung offenbart seinen Charme nicht zuletzt, wenn der Beginn einer langen Rückblende uns bewusst macht, wie weitreichend Román in der Provinz auf den Spuren Moráns wandelt. Der hat wiederum mit seinem kriminellen Plan in groben Zügen die Konstellation des argentinischen Filmklassikers »Apenas un delincuente« (Hugo Fregonese, 1949) nachgezeichnet. Und wenn irgendwann ein Ausschnitt aus Robert Bressons »Das Geld« (1983) über eine Kinoleinwand flimmert, weist der 1972 geborene Moreno ganz unumwunden auf ein weiteres Vorbild hin, dem vor allem in den Sequenzen, die in der Bank spielen, die für den französischen Altmeister typischen Großaufnahmen von Händen nachempfunden sind.

Dagegen atmet die zweite Hälfte von »Die Missetäter« vor allem den Geist New Hollywoods sowie des europäischen Autorenkinos der späten 1960er und frühen 1970er. Zu dem Eindruck tragen zeittypische Zooms und Split-Screens bei, aber vor allem die – dem zentralen Thema sehr angemessene – Weigerung, die Filmdauer den Erfordernissen narrativer Ökonomie zu unterwerfen. So erhalten wir beispielsweise eine zauberhafte Kostprobe freier Zeit, wenn Moreno darauf verzichtet, uns mit dramaturgischen Mitteln auf die Sprünge zu helfen, bevor wir die Regeln eines improvisierten Spiels geduldig nachvollzogen haben, bei dem vier Leute sich in einer Regenpause spontan die Namen von Ortschaften zuwerfen.

»Die Missetäter«, Regie: Rodrigo Moreno, Argentinien, Luxemburg, Chile, Brasilien 2023, 189 Min., bereits angelaufen

2 Wochen kostenlos testen

Die Grenzen in Europa wurden bereits 1999 durch militärische Gewalt verschoben. Heute wie damals berichtet die Tageszeitung junge Welt über Aufrüstung und mediales Kriegsgetrommel. Kriegstüchtigkeit wird zur neuen Normalität erklärt. Nicht mit uns!

Informieren Sie sich durch die junge Welt: Testen Sie für zwei Wochen die gedruckte Zeitung. Sie bekommen sie kostenlos in Ihren Briefkasten. Das Angebot endet automatisch und muss nicht abbestellt werden.

Regio:

Mehr aus: Feuilleton