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Aus: Ausgabe vom 26.03.2024, Seite 6 / Ausland
Brasilien

Spur zum Staatsapparat

Rio de Janeiro: Expolizeichef und zwei Unternehmer wegen Mordes an linker Stadträtin Marielle Franco festgenommen
Von Philip Tassev
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Die Stadträtin und Aktivistin Marielle Franco ist in Brasilien bis heute unvergessen (São Paulo, 14.3.2023)

Brisante Entwicklungen im Fall der Ermordung der brasilianischen Linkspolitikerin Marielle Franco im Jahre 2018: Am Sonntag morgen wurden bei der Operation »Murder Inc.« in Rio de Janeiro drei Personen von der Bundespolizei festgenommen. Einer von ihnen ist ausgerechnet Rivaldo Barbosa, der einen Tag vor dem Mordanschlag zum Chef der Zivilpolizei von Rio ernannt worden war und diesen Posten bis Ende 2018 innehatte. Ihm wird vorgeworfen, 400.000 Brasilianische Real (etwa 74.000 Euro) kassiert zu haben, um die Ermittlungen zu behindern. Die anderen beiden Festgenommenen sind die Brazão-Brüder Domingos und Chiquinho, reiche Unternehmer und Politiker, denen schon lange Verbindungen zur organisierten Kriminalität nachgesagt werden.

Die Bundespolizei wirft ihnen vor, den Mord in Auftrag gegeben zu haben, da die Politik der Stadträtin Franco, etwa ihr Engagement für sozialen Wohnungsbau und gegen Polizeigewalt, ihren Profitinteressen geschadet hätte. Domingos Brazãos aktueller Posten ist der eines Beraters des Rechnungshofes von Rio de Janeiro, sein älterer Bruder Chiquinho sitzt für die rechte Partei União Brasil in der Abgeordnetenkammer Brasiliens. Einem Bericht des größten portugiesischsprachigen Onlineportals UOL zufolge waren die Brüder schon in ihrer Jugend in den 1980er Jahren in Anspielung an den Disney-Comic als die »Panzerknacker« (in Brasilien: Irmãos Metralha) bekannt. Die Festnahmen machten deutlich, »wer diesen Mord begangen hat, wer ihn angeordnet hat und wer es versäumt hat, ihn zu untersuchen«, schrieb der bekannte linke Politiker Marcelo Freixo, der selbst seit Jahren auf der Abschussliste der Mafia steht, bei X.

Marielle Franco wurde am Abend des 14. März 2018 gemeinsam mit ihrem Fahrer Anderson Gomes erschossen, als sie sich auf der Rückfahrt von einer Veranstaltung ihrer Partei, dem Partido Socialismo e Liberdade (Partei für Sozialismus und Freiheit, PSOL) befand. Nachweislich wurde Polizeimunition verwendet.

Ihre Schwester Anielle Franco verkündete am Sonntag, dies sei »ein historischer Tag für die brasilianische Demokratie und ein wichtiger Schritt auf der Suche nach Gerechtigkeit im Fall von Marielle und Anderson«. Ihre Mutter Marinete nannte die Nachricht von der Festnahme Barbosas die »größte Überraschung«. Ihre Tochter habe dem Polizeichef vertraut, der damals einen Tag nach dem Mord öffentlich versprochen hatte, »alles Mögliche und Unmögliche« zu unternehmen, um den Fall aufzuklären. Auch die Witwe Francos, die Stadträtin Monica Benicio (PSOL) äußerte sich im Interview mit der Internetzeitung G1 entsprechend: »Wenn uns der Name der Familie Brazão nicht so sehr überrascht, so ist der Name von Rivaldo Barbosa zweifellos eine große Überraschung, vor allem wenn man bedenkt, dass er die Familie am nächsten Tag als erster Behördenvertreter empfing und sagte, dass die Aufklärung dieses Falles für die Zivilpolizei Priorität habe.« Agatha Amaus, die Witwe des ermordeten Fahrers Anderson Gomes, bezeichnete die mögliche Verwicklung des ehemaligen Polizeichefs einen »Schlag ins Gesicht«.

Dabei ist es eigentlich keine Überraschung, dass die Spur der Ermittlungen, die nach dem Wahlsieg von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva 2022 wieder forciert wurden, in den Staatsapparat führen. Denn: »Teile des Staatsapparates in Rio de Janeiro sind durchdrungen vom organisierten Verbrechen. In vielen Gegenden von Rio herrschen die Milizen durch Schutzgelderpressung, Folter, Mord und Drogenhandel«, heißt es in einem Beitrag auf dem Nachrichtenblog Amerika 21. Diese Milizen, von der wichtigen linken brasilianischen Onlinezeitung Diario do Centro do Mundo als die »Erben der Todesschwadronen der Diktatur« bezeichnet, sind eng mit rechten Politikern und Kapitalisten vernetzt und dienen ihnen als Fußtruppen bei der Durchsetzung ihrer Interessen. Ihre Hochburg sind dabei die Favelas im Westen Rios, viele ihrer Mitglieder Polizisten und Expolizisten. In den letzten Jahren wurden bereits mehrere solcher Beamten im Zuge der Ermittlungen festgenommen. Einer von ihnen war ein Nachbar des rechten Expräsidenten Jair Bolsonaro, der Militärpolizist Ronnie Lessa, der seit 2019 in Haft ist und verdächtigt wird, das Attentat ausgeführt zu haben. Seine Aussage hätte laut der Bundespolizei auch zu der Festnahme von Barbosa und der Brazão-Brüder geführt.

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