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Aus: Ausgabe vom 23.03.2024, Seite 6 / Ausland
Haiti

Ein karibischer Störtebeker

Haiti: Schluss mit Marionettenregierungen. Bandenchef mit klassenkämpferischer Rhetorik gegen eine mögliche US-Intervention
Von Volker Hermsdorf
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Der Expolizist sieht sich heute als Revolutionär: Jimmy »Barbecue« Chérizier (Port-au-Prince, 11.3.2024)

Die Lage in Haiti spitzt sich zu. Während der nicht durch Wahlen legitimierte US-freundliche Expremierminister Ariel Henry in Puerto Rico festsitzt, lehnt die Mehrheit der Bevölkerung einen auf Initiative der US-Regierung geplanten »Übergangspräsidentschaftsrat« ab. Da zugleich in Kenia Vorbehalte gegen die Entsendung einer Eingreiftruppe unter Führung des Landes geäußert werden, erwägen die USA, eigene Truppen in den Karibikstaat zu schicken, berichtete das Onlineportal Gazette Haiti am Mittwoch. Damit würde die Situation allerdings kaum befriedet, im Gegenteil. Den Invasoren würden sich »wütende Menschen in den Ghettos und Arbeitervierteln« entgegenstellen, »die nichts zu verlieren haben und bereit sind, für ihr Land zu kämpfen und zu sterben«, warnt Jimmy »Barbecue« Chérizier. Der ehemalige Elitepolizist wird von westlichen Medien als einer der Hauptschuldigen für die Gewalt in Haiti dargestellt, bezeichnet sich selbst aber als Revolutionär.

Die schillernde Persönlichkeit und der Erfolg Chériziers sind Produkte eines Landes, das nach Ansicht der haitianischen Wissenschaftlerin Jemima Pierre seit 20 Jahren unter Besatzung steht und zum »Labor des Neokolonialismus« wurde. Im Jahr seines zweihundertjähriges Bestehens als unabhängiger Staat hätten ausländische Mächte 2004 Haitis Unabhängigkeit beseitigt, schreibt sie in einem am Dienstag in der Zeitschrift Haïti Liberté veröffentlichten Beitrag. Ein Jahr zuvor hatten die USA, Frankreich und Kanada beschlossen, die gewählte Regierung zu stürzen. »Am 29. Februar 2004 wurde Präsident Jean-Bertrand Aristide von US-Marines entführt und auf eine Militärbasis in Afrika gebracht. Am selben Tag verkündete George W. Bush, Streitkräfte nach Haiti zu schicken, und am Abend waren 2.000 US-amerikanische, französische und kanadische Soldaten im Einsatz.«

Seitdem sei das Land unter verschiedenen US-freundlichen Marionettenregierungen immer tiefer im Chaos versunken, so die Professorin der Universität von British Columbia. Eine dieser Marionetten war der von den USA eingesetzte Premierminister Henry, der auf Druck Washingtons und des IWF Treibstoffsubventionen gestrichen und das haitianische Volk noch tiefer in die Armut gestürzt hat. Zunehmende Not und zu Hunderttausenden aus den USA eingeführte Waffen begünstigten die Bildung schwerbewaffneter Gangs, die schließlich die Kontrolle über die Hauptstadt Port-au-Prince und andere Teile des Landes ausübten.

Als einer der mächtigsten Bandenchefs organisierte Chérizier im Herbst 2022 eine bewaffnete Blockade eines Tanklagers, die zu einer schweren Treibstoffknappheit führte. Das Ziel der Aktion, den Rücktritt von Henry, erreichte er damit allerdings nicht. Während Chériziers Gang Greueltaten vorgeworfen werden, sieht er sich selbst als eine Art karibischer Klaus Störtebeker, der Arme und Bedürftige unterstützt. Der bekennende Freimaurer bezieht sich auf den haitianischen Revolutionär Jean-Jacques Dessalines (1758–1806), der die ehemalige französische Kolonie 1804 in die Unabhängigkeit führte. Er sei kein Marxist, verriet Chérizier dem US-Journalisten Jon Lee Anderson, aber er bewundere Che Guevara und Fidel Castro: »Ich mag sie nicht, weil sie Kommunisten waren, sondern Menschen, die sahen, dass die Bedingungen für die Mehrheit der Bevölkerung nicht gut sind und dafür kämpften, das zu ändern.«

Nachdem der Rücktritt von Henry erreicht worden sei, »wird unser Kampf in eine neue Phase eintreten, um das ganze System zu stürzen, das aus fünf Prozent der Menschen besteht, die 95 Prozent des Reichtums dieses Landes kontrollieren«, kündigte Chérizier gegenüber Al-Dschasira an. Dafür, so Haïti Liberté am Dienstag, würde er eine mögliche Koalition des linkssozialdemokratischen Oppositionspolitikers Jean-Charles Moïse mit dem eher rechten Exputschisten Guy Philippe unterstützen. Beide Politiker lehnen den US-gestützten »Präsidentenrat« und eine Militärintervention ab. »Wenn sie versuchen, die Macht mit Unterstützung ausländischer Truppen zu übernehmen, werden wir bis zum letzten Tropfen unseres dessalinischen Blutes kämpfen«, gab Chérizier sich gegenüber Haïti Liberté kämpferisch. An seiner Wandlung zum Revolutionär gibt es indes auch Zweifel. »Vom Che hat er nur die Baskenmütze«, bemerkte das argentinische Onlineportal Resumen Latino­americano skeptisch.

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