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Aus: Ausgabe vom 12.03.2024, Seite 11 / Feuilleton
Rock

Ein besserer Ort

Die angesagteste Hard-Rock-Band mindestens Europas: Spidergawd transzendieren das Berliner Lido
Von Frank Schäfer
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»Heidi-heido-heida«: Spidergawd, jederzeit verständlich

Im Promovideo zu »Sands of Time«, der aktuellen Auskopplung des neuen Spidergawd-Albums, stehen Bandmitglieder im Plattenladen und legen der strengen Tresenkraft ihre Referenzalben vor. Da werden Erinnerungen wach. Jeder hatte damals so eine Nemesis, ob weiblich oder männlich, im Plattenladen seines Vertrauens. Meine, nennen wir sie Gertrud, trug die ­Haare mit grünem Autolack hochgestellt, einen Nasenring und nahm vermutlich Heroin. Gertrud war die in eine menschliche Form gegossene Göttin des Kaputtseins, ließ außer Post-Punk und abgefahrenstem Avantgardescheiß nichts gelten, damals in den ganz frühen 80ern, und nahm meine Entdeckungen im schmalen Hard-’n’-Heavy-Fach mit einem an Ekel grenzenden Ressentiment entgegen. Triumph, Tank oder Raven … ihr die neue AC/DC vorzulegen, traute sich keiner, sie alle wurden mit der gleichen tödlichen Verachtung gestraft und oft sogar mit zischenden Beleidigungen bedacht, die man einfach über sich ergehen ließ, weil man keine Wahl hatte. Da war eben dieses eine schmale Fach.

So ähnlich geht es Spidergawd im Video. Sie ernten viel Stirnrunzeln und Spott mit AOR-Klassikern von Who bis Van Halen, gelegentlich auch mal ein freundliches Nicken für King Crimson, aber dann blättern sie das Gesamtwerk von Thin Lizzy hin, und damit zaubern sie sogar dieser knallharten Stilpolitesse ein Lächeln ins Gesicht. Das ist weit mehr als ein hübscher Witz. Wer sich für die Einflüsse der Spidergawd-Songs interessiert, bekommt hier viel Material zum Nachhören empfohlen. Wie es der Truppe um Kreativchef Per Borten immer wieder gelingt, aus dem alten Kram das Hymnische zu extrahieren und in eine anmutige neue Form zu gießen, ist damit jedoch längst nicht geklärt. Rolf Martin Snustad, der sein riesiges Baritonsaxophon wie eine verzerrte Gitarre spielt und diese profanen Kirchenlieder zur Überlebensgröße aufbläst, hat jedenfalls großen Anteil daran. Schön, dass er nach jedem Ausstieg immer wieder zurückkehrt.

Als die Norweger am Donnerstag im Berliner Lido gastierten, nahm Borten denn auch gleich die erste Ansage zum Anlass, die frohe Botschaft zu verkünden. »We’ve got our original sax player back in the band.« Der Jubel der Connaisseurs nimmt kein Ende, denn alle wissen genau: Snustads dicke Backen machen den Unterschied. Wobei die Frénésie noch größer hätte sein können, wenn das Lido ausverkauft gewesen wäre. Shame on you, Berlin! Da kommt die aktuell angesagteste Hard-Rock-Band mindestens Europas, wenn nicht der Welt, in die Hauptstadt, die mit jedem neuen Album die »Platte des Monats« in den Spartenmagazinen stellt, und das interessiert gerade mal 300 Leute? Die würde ich in Braunschweig auch noch locker zusammentrommeln.

Netter sind sie hier immerhin. Als ich der Gästelistenverwalterin meinen Namen nenne, meint sie enthusiastisch. »Das ist ja super, so würde ich auch gerne heißen.« Und als ich ihr dann meine Begleiterin vorstelle, setzt sie noch einen drauf. »So eine bezaubernde Pluseins, herzlichen Glückwunsch!« Natürlich verarscht sie uns, aber als bekennender Vertreter der Schmarotzerfraktion gerät man auch schon mal an eine Gertrud im Geiste.

»Viele alte Männer hier … so wie du«, schmollt die Signora nach der Vorgruppe Årabrot und dem dritten Astra. »Voll das Boomerparadies!« Aber ein paar haben wenigstens ihre Kinder mitgebracht. Das Spidergawd-Fundament besteht nun mal aus Seventies-Vintage-Hard-Rock mit ein paar Metalarmierungen. Da hat man sich so ein Publikum redlich verdient. Borten offenbart dann auch, wo er herkommt. »Ich bin mit sieben Jahre alt … denke … habe ich gedacht … bestes Metalalbum der Welt … ist ›Restless and Wild‹«, kauderwelscht sich der Trøndelager Grundsympath durch eine deutschsprachige Ansage. Die ersten paar Reihen murmeln Einverständnis und stimmen das entsprechende Intro an. »Heidi-heido-heida, heidi-heido-heida …« Das nennt man gelungene Publikumsansprache – Borten kriegt für eine Weile das Grinsen nicht aus dem Gesicht.

Er spielt den musikalischen Direktor und führt durch den Abend, weil einer den Job übernehmen muss – ein klassischer Rockstar ist er nicht. So absolviert er den leidigen Gitarrensoundcheck gleich mal selbst, und lässt bis auf Schlagzeuger Kenneth Kapstad, der genug zu tun hat, die Karre in der Spur zu halten, alle anderen ebenfalls ans ­Mikro. Eben nicht nur bei den breitwandigen, zutiefst enthusiasmierenden Refrains. Das ist ein Kommen und Gehen da vorne an der Bühnenfront … und mit Brynjar Takle Ohr, dem Neuen an der zweiten Leadgitarre (er heißt wirklich so), wechselt sich Borten auch solistisch regelmäßig ab.

Am besten sind die beiden ohnehin, wenn sie im eleganten Parallelflug in den Äther abrauschen, wie bei »Into the Deep Serene« oder »Ritual Supernatural«, und Snustad ihnen mit seiner meterlangen Monstertröte den Rücken freihält. Da geht einem schlicht das Herz auf, und dieser heruntergerockte Schuppen verwandelt sich für Momente zu einem besseren Ort. Man will nirgendwo anders sein.

Aber urplötzlich ist das Konzert zu Ende. Es gibt mit dem seelenstreichelnden »All and Every­thing« noch eine letzte Zugabe, dann gehen alle auf gut norwegisch von der Bühne, also ohne Worte und tiefenentspannt. Bis auf Saxophonist Snustad, der noch ein Weilchen sinnlos auf der Bühne herumstromert, an seiner Gießkanne fingert, Setlists aufsammelt, einfach weil noch Adrenalin in ihm pumpt und er noch nicht weg will. Man muss sich Snustad als glücklichen Menschen vorstellen.

Spidergawd: »Spidergawd VII« (Crispin Glover Records, Trondheim)

Verbleibende Termine der »SGVII Release Tour 2024«, Support: Årabrot

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12. März: Dornbirn, Conrad Sohm; 13. März: Zürich, Dynamo; 14. März: Nürnberg, Hirsch; 15. März: Karlsruhe, Substage; 16. März: Aschaffenburg, Colos-Saal – dazu am 5. Juli beim Rockharz Open Air, Flugplatz Ballenstedt

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