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Aus: Ausgabe vom 27.02.2024, Seite 7 / Ausland
Syrien

Giftgasangriff umgedeutet

Syrien: Bundesregierung nutzt OPCW-Untersuchung, um Sanktionen aufrechtzuerhalten
Von Wiebke Diehl
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Angriff unter falscher Flagge: Auch der Giftgaseinsatz in Duma wurde erst der syrischen Armee in die Schuhe geschoben (Duma, 23.4.2018)

Die »unabhängige, unparteiische und sachkundige Arbeit« der OPCW-Mitarbeiter sei »von größter Bedeutung«. Das erklärte am Freitag ein Sprecher des Auswärtigen Amts in Reaktion auf das einen Tag zuvor veröffentlichte Ergebnis des vierten Berichts des Ermittlungs- und Identifizierungsteams (Investigation and Identification Team, ITT) der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW). Die Ermittler kommen darin zu dem Schluss, Einheiten des sogenannten Islamischen Staats (IS) seien für den Chemiewaffenangriff in der syrischen Ortschaft Marea bei Aleppo vom 1. September 2015 verantwortlich. Selbstkritik, weil die westlichen Regierungen jahrelang und ohne jegliche Beweise reflexartig die Regierung Assad für alle in Syrien verübten Attacken mit Chemiewaffen verantwortlich gemacht haben – Fehlanzeige. Aber es folgt in der Erklärung, worum es dem Auswärtigen Amt wohl eigentlich geht: Transfers von »potentiell für die Herstellung von Chemiewaffen geeigneten Chemikalien« nach Syrien müssten unterbunden bleiben. Die Sanktionen gegen Syrien sollen also unbedingt aufrechterhalten bleiben – auch die gegen »Dual-Use-Güter«, von denen ebenfalls Rohstoffe für die Herstellung von Medikamenten oder Werkzeuge und Maschinen zum Erhalt der zivilen Infrastruktur betroffen sind.

Damaskus streitet jegliche Einsätze von Chemiewaffen ab. Bereits im August 2014 hatte die »Gemeinsame Mission« der UNO und der OPCW der syrischen Regierung die Zerstörung ihrer letzten Giftgasbestände bescheinigt. Abgegeben hatte Damaskus sein Arsenal, nachdem es im August 2013 fast zu einem militärischen Eingreifen der USA in Syrien gekommen war. Die Verantwortung für einen Sarinangriff in der Region Ghuta bei Damaskus vom 21. August, bei dem bis zu 1.700 Menschen ums Leben gekommen waren, hatten die Regierenden der westlichen Industrienationen damals ohne jegliche Beweise der Regierung Assad in die Schuhe geschoben. Dementgegen kamen zwei Wissenschaftler des Massachusetts Institute of Technology (MIT) Anfang 2014 zu dem Schluss, die sarinhaltigen Raketen seien aus von »Rebellen« kontrolliertem Gebiet abgefeuert worden. Der investigative US-Journalist Seymour Hersh beförderte ans Licht, dass auch Terrorbanden wie die zwischenzeitlich umbenannte Al-Nusra-Front über Sarin und andere chemische Kampfstoffe verfügten. Diese hatten das größte Interesse, eine Militärintervention der USA zu provozieren. Die syrische Armee hingegen befand sich damals auf dem Vormarsch und hätte bei einer Intervention von außen nur verlieren können. Der damalige US-Präsident Barack Obama hatte 2012 einen Einsatz von Chemiewaffen als »rote Linie« bezeichnet, deren Überschreitung eine US-Intervention nach sich ziehen würde.

In den Folgejahren wurde die OPCW und insbesondere ihr ITT nach Aussage mehrerer Mitarbeiter von westlichen Regierungen, die weiterhin auf einen Sturz der Regierung Assad hinwirkten, instrumentalisiert und politisiert. Trotz gegenteiliger Erkenntnisse und Indizienlage wurden Berichte erstellt, in denen die syrische Regierung für Chemiewaffenangriffe verantwortlich gemacht wurde. Dies gilt besonders für einen mutmaßlichen Chlorgasangriff in Duma bei Damaskus 2018. Obwohl das Untersuchungsteam vor Ort zu völlig anderen Schlüssen kam, ja sogar in Zweifel zog, ob ein Angriff mit Chemiewaffen überhaupt stattgefunden hatte, wurden ein Zwischenbericht und ein offizieller Abschlussbericht veröffentlicht, die mit den Ergebnissen der Ermittler nur noch wenig zu tun hatten. Die Inspektoren selbst wurden diffamiert, als sie sich an die Öffentlichkeit wandten.

Im vergangenen August hat der Ständige Vertreter Syriens bei den Vereinten Nationen Washington beschuldigt, bewaffnete Gruppen in Westsyrien mit chemischen Waffen versorgt und sie an diesen ausgebildet zu haben, um Angriffe unter falscher Flagge auszuführen und sie Damaskus anlasten zu können. Seit geraumer Zeit beschuldigt die syrische Regierung zudem die US-Regierung, auf ein Wiedererstarken des IS in Syrien hinzuarbeiten, um Chaos zu schüren, die Besetzung Nordostsyriens aufrechtzuerhalten und weiterhin syrischen Weizen und syrisches Rohöl zu stehlen.

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