Leserbrief zum Artikel Zukunft der Linkspartei: »Partei muss Klassenfrage ernst nehmen«
vom 12.09.2020:
Wer vertritt sonst Arbeiterinteressen?
»Die Partei muss die Klassenfrage ernst nehmen«: richtig. Nur ist es eine offene Frage, wer sich wie daranmacht, denjenigen, die ihre wirklichen Klasseninteressen nicht erkennen, genau das klarzumachen? Neulich wurde Die Linke von einem Neumitglied, der sich dieser Probleme offenbar bewusst ist, als Mosaikpartei bezeichnet. Vor »Defender 2020« stritten wir lautstark für den Frieden, danach für eine vernünftigere Gesundheitspolitik, schon länger für Assange und einen freien Journalismus, für einen sozialökologischen Umbau, gegen die Rechtsentwicklung und permanent für eine gerechte Asyl- und Flüchtlingspolitik. Wie kann man da aussteigen? Und auch inhaltlich halte ich die Vorwürfe von Inge Hannemann für nicht gerechtfertigt. Forderungen der Bundestags- oder Landtagsfraktionen können beim Sozialen, bei der Friedenspolitik wie überhaupt aufs Maximum, die reine Lehre zielen, sind aber vielleicht nur in der Kompromissvariante durchsetzbar. Was von beiden ist hilfreicher? Ich nehme an, im ganzen Land, mit Sicherheit bei uns hier im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge, wo wir Frau Hannemann schon begrüßen konnten, ist Die Linke die einzige Partei, die Erwerbslosen Hilfe und Unterstützung zukommen lässt. Ich persönlich habe damit soviel zu tun, dass zahlreiche andere Arbeiten liegenbleiben. Natürlich kann ich mich irren. Aber auch Inge Hannemann.
Kommentar jW:
Auf diesen Brief antwortete Roland Winkler aus Aue:
Das ist vielleicht eine der spannendsten Fragen, die R. Böhme berührt. Haben wir nicht auch bis 1989 in unserer Millionen-Partei geglaubt, aus uns und sich heraus könne Erneuerung geschehen? Wie ist das mit der Kraft der vielen? Klingt gut, plausibel und überzeugend. Warum aber funktioniert es meist nicht? Es gibt auch heute die vielen, die anderes und Konkreteres, die Grundsätze und Prinzipien von ihrer Partei fordern und erwarten. Warum geht trotz der vielen immer mehr davon verloren und wird einer Regierungsfähigkeit geopfert? Warum haben offenbar die vielen in der oder den Parteien so oft nicht das Gewicht der Stimme, wie es z. B. eine Partei des demokratischen Sozialismus haben sollte? Klasseninteressen ernst nehmen, genau das wäre es. Was gelten Klasseninteressen noch, ist Klassenstandpunkt noch modern oder längst geopfert? Was kann eine Partei der vielen noch ändern und bewegen, die sich fast nur noch an moralischen Grundsätzen orientiert, sich humanistisch verpflichtet fühlt und nicht mehr den Klassengegner, Klasseninteressen sehen will, dem Klassenkampf abgeschworen hat, ihre Vergangenheit als Unrecht sieht und sich bei ihren Gegnern seit Jahrzehnten auf Knopfdruck entschuldigt? Was wurde damit seit Jahrzehnten real und wirklich an demokratischem Sozialismus deutlich, was erreicht und real verändert in den Lebensfragen der Klasse und Menschheit? Schauen wir uns um in der Welt von heute. Wird uns das Friedenbekenntnis noch ausgeprügelt und unser Verständnis von Demokratie, Freiheit, Recht neu definiert angepasst? Darum geht es. Hat die Partei der vielen die Kraft der vielen, sich derer zu erwehren, die die vielen noch immer zu disziplinieren verstehen?
Bernhard May entgegnete:
»Mosaikpartei« ist schön gesagt – und beleuchtet nebenbei einen Webfehler der Repräsentativdemokratie, die, soweit sie zur Zufalls»Demokratie« verkommt, nicht von ungefähr berechtigte, erhebliche bis krisenhafte Akzeptanzprobleme hat. – »Maximum« versus »Kompromissvariante«: Da mag ein Unterschied bestehen, ob sich ein Kompromiss in quantitativen Fragen aushandeln lässt oder ob eine Entscheidung zwischen Alternativen anliegt. Angenommen, potentielle halb- oder viertellinke Koalitionspartner barmen um zwei Prozent vom BIP für »Verteidigung« , und wir gehen mit null Prozent in die Verhandlung, so wäre mit einem Prozent nach der Verhandlung beiden Seiten gedient. Aber: NATO-Austritt der BRD oder fortgesetzte Mitgliedschaft in dieser ziemlich kriminellen, unpopulären und »hirntoten« Vereinigung? Da fiele mir so schnell trotz meiner Engelsgeduld kein »Kompromiss« ein: vielleicht eine vierjährige Legislatur noch drin aushalten – wofür die halblinken Koalitionspartner anderswo ordentlich nachgeben müssten! – und zugleich vier Jahre lang betonen, dass die Entscheidung in der folgenden Legislatur anliegt und die Wahl einer Abstimmung darüber gleichkommt. – Mit den »roten Haltelinien« diskutierten wir solche Fragen vor Jahren schon an, und ich erinnere mich eines seltsamen Einwands gegen solche Haltelinien, wir könnten doch »unseren Verhandlungsführern vertrauen«. Können wir das immer? Warum? – »Äußerungen von Personen aus der Führungsriege wie von einfachen Mitgliedern«: Gerade hinsichtlich des Vertrauens in Verhandlungsführungen ist das schon ein Unterschied! Hätte Genosse Dietmar Bartsch seine Verharmlosung von »Bundeswehr«-Einsätzen, der NATO oder des Militarismus, Bellizismus und Imperialismus an einem kleineren Stammtisch ausgesprochen – vielleicht auf der Ostseeinsel Bornholm, was seiner NATO-Verliebtheit entgegenkäme, denn Dänemark ist leider auch noch immer ihr Mitglied –, dann könnten wir ihn mit Achselzucken rechts liegen lassen. Aber als Kovorsitzenden unserer Bundestagsfraktion? Das geht nicht! Wie sollte ich das am Infostand zur Bundestagswahl 2021 relativieren? Und warum sollte ich das? Kompromisse können gut und schön sein: als Verhandlungsergebnis. Kompromisse gehören nicht bereits in die Beschreibung des Istzustands und eben auch nicht in die Zielformulierungen. Vorauseilender Gehorsam ist eher eine feige, eine opportunistische Haltung – und bringt verdammt wenige Stimmen, kostet aber verdammt viele.