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Aus: Welt im Umbruch, Beilage der jW vom 05.11.2025
Welt im Umbruch

Kehrtwende im Kaukasus

Armenien: Unter Premier Paschinjan vollzieht das Land einen außen- wie innenpolitischen Richtungswechsel
Von Mawuena Martens und Dominik Wetzel, Gjumri
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Die Piratenflagge mit Totenkopf und Strohhut wurde zum Erkennungszeichen der »Generation Z« (Manila, 21.9.2025)

Im Klammergriff, so könnte man die Situation Armeniens beschreiben. Das bergige Land im südlichen Kaukasus ist etwa so groß wie Brandenburg und liegt zwischen der Türkei und Aserbaidschan. Mit beiden Turkstaaten ist das Land historisch verfeindet. Einzig mit den Nachbarn Iran im Süden und Georgien im Norden pflegt Jerewan gute Beziehungen. Das heißt auch, dass es bis vor kurzem nur über diese beiden Grenzen Handel treiben konnte. Wie verhält sich ein Staat in einer solchen Lage? Jahrelang fuhr die ehemalige Sowjetrepublik eine Politik, in der sie sich – stärker als andere Staaten der Region – an Russland als »Schutzmacht« anlehnte und versuchte, das Machtungleichgewicht durch die Zusammenarbeit mit Iran oder der EU abzumildern.

Doch mit dieser Politik ist offenbar Schluss. Symbolisch für eine einseitige Bindung an den politischen Westen und die Kooperation mit dem Erzfeind steht die Unterzeichnung einer Absichtserklärung für einen Friedensvertrag zwischen Jerewan und Baku im August – im Weißen Haus. Bei dieser Gelegenheit schloss US-Präsident Donald Trump mehrere bilaterale Verträge mit beiden Staaten ab. Diese erlauben den USA, die Russlandabhängigkeit Armeniens in strategischen Bereichen zu ersetzen und den Einfluss Moskaus in der Region zurückzudrängen. So ist vereinbart, dass die Vereinigten Staaten Rechte am Sangesur-Korridor erhalten. Dieser verläuft im Süden Armeniens entlang der Grenze zu Iran. Weitere Klauseln sehen eine engere Zusammenarbeit mit Jerewan in den Bereichen der »Grenzsicherung«, der Halbleiterproduktion, künstlicher Intelligenz sowie in Energiefragen vor. Die Unterzeichnung in Washington steht im Kontrast zum Waffenstillstandsabkommen von 2020. Das war unter Führung Moskaus verhandelt und von Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew, Armeniens Premier Nikol Paschinjan und Russlands Präsident Wladimir Putin unterschrieben worden.

Wie kam es zu dieser Wende? Geht man nach der im Westen verbreiteten Erzählung, waren es die Russen, die Armenien im Bergkarabachkrieg 2020 kaum und 2023 überhaupt nicht mehr unterstützten – und das unvorhersehbar und grundlos. Doch die Thematik ist vielschichtiger. Zur Realität gehört, dass sich Paschinjan, der 2018 in der sogenannten Samtenen Revolution an die Macht kam, von Beginn an gegen das alte prorussische Establishment wandte. Zwar waren westlich finanzierte »Nichtregierungsorganisationen« bereits seit den 90ern aktiv, doch mit der Machtübernahme des gewandten Redners, nahm ihre Zahl und ihr Einfluss im Land drastisch zu. Gemessen an der Bevölkerungsgröße gehört Armenien laut dem EU-finanzierten CSOmeter mittlerweile zu den Ländern im postsowjetischen Raum mit der höchsten Rate an »NGOs«.

Dazu kommt: Paschinjan trug seine prowestliche Haltung ab 2020 nicht nur offen zur Schau, sondern ließ ihr Taten folgen. Seit 2023 findet eine jährliche gemeinsame Militärübung mit den USA statt. Eine EU-Beobachtermission ist an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze stationiert. Anfang 2024 wurde die Mitgliedschaft in dem von Russland dominierten Militärbündnis, der Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit (OVKS), eingefroren und das Land Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofs, der einen Haftbefehl gegen Putin verhängt hat. Im Januar unterzeichnete der armenische Außenminister Ararat Mirsojan gemeinsam mit seinem US-Amtskollegen einen Vertrag zur strategischen Partnerschaft. Im März stimmte das von der Regierungspartei »Zivilvertrag« dominierte Parlament für erneute Beitrittsverhandlungen mit der EU. Auch mit Frankreich unterzeichnete Jerewan mehrere Militärverträge. Moskau sieht diese Schritte als Provokation. Gleichzeitig sind russische Truppen und Ressourcen seit 2022 verstärkt in der Ukraine gebunden. Das bedeutet auch, dass gute Beziehungen zu einflussreichen Nachbarn wie Aserbaidschan für Moskau wichtiger wurden.

Die Frage ist: Wie geht es nun weiter? Die Antwort hängt stark von den Parlamentswahlen im kommenden Juni ab. Die Vorbereitungen dafür laufen bereits, denn Paschinjan will seine Wiederwahl um jeden Preis sichern. Er steht unter starkem Druck, seine Umfragewerte sind schlecht und von mehreren Seiten formiert sich Opposition. Das ist nicht überraschend, schließlich hat das Land in seiner Amtszeit zwei historische Niederlagen in den Kriegen um Bergkarabach erlebt und das Gebiet sogar als Territorium Aserbaidschans anerkannt. Zudem ist er dabei, einen Friedensvertrag mit dem Nachbarn abzuschließen, der Jerewan zu drastischen Zugeständnissen zwingt. So hat Baku bereits klar gemacht, dass es von Armenien eine Verfassungsreform erwartet, mit der Jerewans Anspruch auf Bergkarabach und den Berg Ararat – das in der heutigen Türkei liegende Nationalsymbol – sowie der Genozid von 1915/16 aus dem Dokument gestrichen werden soll. Gleichzeitig bleiben Aussagen Alijews, wonach Armenien »Westaserbaidschan« sei, nicht unbemerkt. Da hilft es nicht, dass sein Land Mitte Oktober die Grenze für kasachische Weizenexporte geöffnet hat.

Um Armenien auf den neuen politischen Kurs zu bringen, schreckt die Regierung nicht vor rabiaten Methoden zurück. Seit Monaten finden Verhaftungen politischer Gegner statt. Anwälte, Klerikale und Bürgermeister – etwa der russischen Garnisonsstadt Gjumri –, die sich gegen die Regierung und teils prorussisch ausgesprochen haben, werden vor den Wahlen aus dem Rennen genommen. Das ist in der Geschichte der jungen Republik einmalig. Der prominente Menschenrechtsanwalt Ruben Melikjan betonte im Oktober im Gespräch mit jW: »Es hat bereits mehrere Repressionswellen gegeben, doch nie so proaktiv und heftig wie jetzt. Vor allem gibt es einen Unterschied zu vorherigen Regierungen. Sie konnten sich ein solches Verhalten nicht erlauben, da sie sofort von der Horde an westlich finanzierten Organisationen kritisiert wurden. Bei Paschinjan ist das nicht der Fall, er kann rote Linien überschreiten, ohne dass der Westen das kritisiert.«

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