Gebraucht, trotz allem
Von Norman Paech
In diesem Jahr ist die UNO 80 Jahre alt geworden, gut dreimal so alt wie ihr Vorgänger, der Völkerbund. Sie fing 1945 mit 51 Mitgliedstaaten an, nun ist sie auf 193 angewachsen. Ihre Gründungsaufgabe, die Menschheit von der Geißel des Krieges zu befreien und Frieden zu garantieren, hat sie allerdings ebensowenig erfüllen können wie der Völkerbund. Im Gegenteil. Aktuell ist sie offensichtlich ohnmächtig dazu verurteilt, Kriegen in Europa, im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika zuzuschauen, die so gewalttätig und tödlich sind wie seit ihrer Gründung bisher nur der Vietnamkrieg, der vor 50 Jahren endete. Der Völkerbund ist an seiner Ohnmacht im Zweiten Weltkrieg gescheitert. Die Frage stellt sich also, wie die UNO diese Kriege überleben will, wenn sie ihrer zentralen Aufgabe sowenig gerecht wird.
Da die Staaten derzeit nicht in der Lage sind, das kapitalistische System, dem der Krieg inhärent ist, in ein friedlicheres System zu verwandeln, wird jede Organisation – vom Briand-Kellogg-Pakt 1928, der explizit den Krieg verbot, über das Gewaltverbot der UN-Charta 1945 bis zur Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 1975 – an der Sehnsuchtsaufgabe vom »ewigen Frieden« scheitern. Was übrig bleibt, sind Reformen, die versuchen, Waffen und die Auswirkungen des Krieges zu begrenzen und einzuhegen.
Letztlich machtlos
Das ist die Idee des humanitären Völkerrechts, der Haager und Genfer Konventionen. Das steht auch hinter dem ersten namhaften Versuch, die UNO wieder aktiv an der Friedenssicherung zu beteiligen, als die kanadische Regierung 2000 eine kleine internationale Gruppe zusammenrief, um ein Verfahren zu entwickeln, das die Staaten daran hindern sollte, den UN-Sicherheitsrat einfach zu umgehen, wie es die NATO 1999 bei ihrem Krieg gegen das damalige Jugoslawien gemacht hatte. Er war eindeutig völkerrechtswidrig. Die Gruppe veröffentlichte 2001 einen Vorschlag, der auf der Selbstverständlichkeit aufbaute, dass jeder Staat verpflichtet ist, die Rechte seiner Bürger zu schützen und zu verteidigen.
Dort allerdings, wo ein Staat dazu nicht in der Lage oder nicht willens ist, diese Schutzfunktion zu erfüllen, formulierte der Vorschlag eine Pflicht der anderen Staaten, einzugreifen. Auf dem Weltgipfel der Vereinten Nationen 2005 wurde dieses Konzept der »Responsibility to Protect« auf Völkermord, Kriegsverbrechen, »ethnische Säuberung« und Verbrechen gegen die Menschheit begrenzt und in das Abschlussdokument übernommen. Diese »Verantwortung« ermächtigte jedoch nicht zu eigenmächtigen Interventionen wie dem NATO-Angriff auf dem Balkan und dem Überfall der USA 2003 auf den Irak. Das absolute Gewaltverbot des Artikels 2 Ziffer 4 UN-Charta konnte auch in diesem Fall nur durch ein Mandat des UN-Sicherheitsrats durchbrochen werden. Wie weit dieser Reformvorschlag von der Realität entfernt war, zeigte sich spätestens bei der Intervention der USA in Syrien 2011 und im gleichen Jahr in Libyen, als das Mandat des Sicherheitsrats bedenkenlos ausgedehnt und missbraucht wurde.
Kofi Annan, ehemaliger UN-Generalsekretär, hatte 2005 zum entscheidenden Jahr der Reformdebatte der Vereinten Nationen erklärt, die bereits in das dreizehnte Jahr ging. Er legte einen Reformvorschlag vor mit dem Titel »In größerer Freiheit: Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten«. In ihm spielten das Problem Armut in weiten Teilen der Welt, die Frage der Friedenssicherung und kollektiven Sicherheit, eine globale Strategie gegen den Terror und die Reform des Sicherheitsrats eine zentrale Rolle. Schon damals war die »rot-grüne« BRD-Regierung vor allem daran interessiert, einen ständigen Sitz in dem höchsten UN-Gremium zu erhalten. Dafür sollten von den zehn nichtständigen Mitgliedern sechs zu ständigen Sitzen umgewandelt werden: zwei für Asien (Indien, Japan), je einer für Afrika, Westeuropa (BRD) und Lateinamerika (Brasilien).
Was aus all diesen Vorschlägen, Projekten und Konzepten geworden ist, lässt sich nach 20 Jahren auch ohne aufwendige Evaluation erkennen: Die Armut hat sich weltweit verschärft und damit die Kluft zum Reichtum vertieft. Friedenssicherung und kollektive Sicherheit sind angesichts der gegenwärtigen und noch drohenden Kriege in die Ferne gerückt, und die Strategie »gegen den Terror« ist mehr zum Vorwand neuer Kriege als zum Gewinn größerer Sicherheit geworden. Da ist die Umorganisation der UN-Menschenrechtskommission, die schon immer in der Kritik der USA und Israels stand, in einen neu konzipierten Menschenrechtsrat kein Grund zum Feiern.
Ein neuer Anlauf
Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die UNO im vergangenen Jahr erneut eine Reforminitiative startete, »UN 80« genannt. Diesmal aus dem ganz banalen Grund der knappen Kasse. Die schon länger währende Liquiditätskrise hat sich mit den ausbleibenden Zahlungen der USA und den verspäteten Beiträgen Chinas akut verschärft. Es fehlt das Geld, mit dem die USA (22 Prozent) und China (20 Prozent) fast die Hälfte des Gesamtbudgets beigetragen haben. Schätzungen sehen die Gesamteinnahmen der UNO von 69 Milliarden US-Dollar im Jahr 2023 auf 50 Milliarden fallen. So bedeutet die Reform zunächst das, was wir auch aus den Haushaltsberatungen des Bundes kennen: kürzen, Stellen abbauen, Umstrukturierung und Effizienzsteigerung der Verwaltung. Man macht sich selbst Mut in der Misere, indem man den fatalen Geldmangel zum Ansporn nehmen will, die bestehenden Reformvorhaben auszubauen.
Doch welche Reformen, die aus dem unerledigten Katalog von 2005 noch auf ihre Bearbeitung warten, sind gemeint? Vom Kampf gegen Armut und Hunger, der Sicherung des Friedens und der Menschenrechte, der Eindämmung des Terrors und vor allem der Zivilisierung der großen militärischen Mächte, die nach wie vor ohne Rücksicht auf die UN-Charta ihre Kriege führen, liest man wenig. Alles steht unter dem Diktat der Kosteneinsparung. So bleibt das einzige greifbare Reformvorhaben die Erweiterung des Sicherheitsrats um Stimmen aus Asien, Afrika und Lateinamerika. Europa ist mit Frankreich und Großbritannien genügend repräsentiert. Es gibt kein Argument, weswegen auch noch Deutschland hinzukommen sollte. Präsident Luiz Inácio Lula da Silvas nüchterner Kommentar aus Rio de Janeiro, wo die BRICS-Staaten tagten: »Es ist lange her, dass ich eine so irrelevante UNO gesehen habe …«
Diese magere Bilanz ist dennoch kein Grund für einen Abgesang auf die UNO. Sie bleibt der zentrale Ort, an dem die Staaten sich treffen, ihre Interessen formulieren und ausgleichen können. Sie ist das unersetzliche Forum der internationalen Debatte um die zentralen Probleme der Welt. Die ausdrückliche Feindschaft und Missachtung durch ein Regime wie das des US-Präsidenten Trump wird sie überleben. Auch wenn sie den Krieg nicht aus der Welt schaffen kann, gibt es genügend Aufgaben und Probleme, die nur mit einer internationalen Organisation wie der UNO gelöst werden können. So kann man Lula durchaus zustimmen, wenn er seine Kritik mit dem Halbsatz mildert: »… Aber in all diesen Jahren hat die UNO nicht immer versagt, und sie ist ein Beweis dafür, dass Multilateralismus funktionieren kann.«
Norman Paech lehrte bis zu seiner Emeritierung Politische Wissenschaften in Hamburg und befasst sich als Autor mit dem Völkerrecht und mit Menschenrechten
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