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Aus: Krieg & Frieden, Beilage der jW vom 27.08.2025
NATO-Strategie gegen Russland

Revanche in Vorbereitung

EU-Truppenstationierung und das Palantir-System der NATO sollen Niederlage im Ukraine-Krieg wettmachen
Von Sevim Dagdelen
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»Selbstlernendes, hochgradig automatisiertes Kriegsinstrument«: Auch der britische Premier Keir Starmer ist ein Fan von Software aus dem Hause Palantir (Washington, 27.2.2025)

In diesen Tagen drängt sich der Eindruck auf, dass die europäischen Staaten alles daran setzen, schon jetzt eine Revanche für die sich abzeichnende Niederlage im Ukraine-Krieg vorzubereiten. Ähnlich wie bei den Vereinbarungen »Minsk I« und »Minsk II« in den Jahren 2014 und 2015 scheint auch ein heutiger Friedensschluss nur als taktische Zwischenetappe betrachtet zu werden – dazu gedacht, die ukrainische Führung auf eine spätere Rückeroberung verlorener Gebiete vorzubereiten.

Allerdings ist der Einsatz heute deutlich höher. Die selbsterklärte »Koalition der Willigen« in Europa plant nicht nur eine dauerhafte Truppenstationierung in der Ukraine. Diese soll mit Sicherheitsgarantien verbunden werden, die dem Artikel 5 des NATO-Vertrags ähneln – im Kern ein informeller NATO-Beitritt der Ukraine.

Jede künftige bewaffnete Auseinandersetzung mit Russland würde damit automatisch eine direkte militärische Beteiligung europäischer Staaten – auch Deutschlands – nach sich ziehen. Die Bereitschaft der Bundesregierung, deutsche Soldaten in die Ukraine zu entsenden, muss deshalb als Bereitschaft zu einem möglichen Kriegseintritt gegen Russland gewertet werden.

Was verleiht der Koalition diesen Löwenmut? Offenbar setzt man auf weitere Aufrüstung der Ukraine – insbesondere mit weitreichenden Raketen. Zudem soll KI-gesteuerte Kriegführung helfen, nach einer Atempause doch noch einen Sieg über Russland zu ermöglichen. Hinzu kommt ein wirtschaftlicher Aspekt: Im Schatten des neuen US-Handelskriegs unter Präsident Donald Trump gegen die BRICS-Staaten hoffen europäische Regierungen, mittelbar zu profitieren – in der Hoffnung, Russland doch noch wirtschaftlich zu ruinieren. Diese Hoffnung knüpft an frühere Aussagen etwa von Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) an, wonach Sanktionen Wirkung zeigen sollten.

Trump führt weltweit Wirtschaftskriege durch Zölle – besonders gegen die BRICS-Staaten. Brasilien, das seit Januar 2025 den Vorsitz innehat, wurde ab August mit fünfzigprozentigen Strafzöllen auf fast alle Importe in die USA belegt. Seit dem 1. August ist auch Südafrika von Strafzöllen in Höhe von 30 Prozent betroffen. Indien soll ab demselben Datum zunächst mit 25 Prozent belegt werden, später mit weiteren 25 Prozent für Importe im Zusammenhang mit russischem Öl – insgesamt also 50 Prozent. Washington will damit bestimmen, mit wem Indien künftig Handel treiben darf. Besonders russische Rüstungs- und Öllieferungen an Indien sind der US-Regierung ein Dorn im Auge.

Auch China soll sanktioniert werden. Hier ging die EU mit Sekundärsanktionen voran, die USA prüfen ähnliche Schritte mit dem Ziel, den russisch-chinesischen Handel zu unterbinden. Trump verschärft damit die Strategie seines Vorgängers, den Niedergang der »einzig verbliebenen Weltmacht« aufzuhalten – und riskiert viel. Die Europäer hoffen, von dieser aggressiven US-Handelspolitik im Konflikt mit Russland zu profitieren. In Brüssel wird bereits das 19. Sanktionspaket vorbereitet – unter lautem Beifall von Grünen und Teilen der Linken.

Noch bedeutsamer für eine mögliche Revision eines künftigen Friedens in der Ukraine ist, dass die »Koalition der Willigen« gemeinsam mit den USA auf eine Revolutionierung der Waffentechnik setzt. Während in Deutschland noch über Palantirs Überwachungssysteme für Polizeibehörden gestritten wird, hat die NATO längst Fakten geschaffen: Mit Zustimmung auch der Bundesregierung wurde im April 2025 das KI-Kriegführungssystem »Maven Smart System« beschafft und schon im Mai in Betrieb genommen. Palantir-Chef Alex Karp rief in diesem Zusammenhang nach einem neuen »Manhattan-Projekt«. Das System gilt als eine Art »konventionelle Atombombe«, weil es geeignet ist, die Kriegführung grundlegend zu verändern – mit weitreichenden Folgen für das internationale Kräfteverhältnis, insbesondere gegenüber Russland.

Im Vorgriff erläuterte der NATO- und US-Befehlshaber für Europa und Afrika, General Christopher Donahue, Mitte Juli 2025 auf der ersten Militärtagung »Landeuro« in Wiesbaden, ein Angriff auf die russische Oblast Kaliningrad könne in unvorstellbar kurzer Zeit abgeschlossen werden. Das automatisierte Zielerfassungs- und Waffeneinsatzsystem beschleunigt Operationen erheblich, reduziert den Personalbedarf und erlaubt auch kleineren Verbänden, überlegene Gegner zurückzudrängen. Ein NATO-Angriff auf Russland erscheint damit erstmals denkbar, ohne umfassende Mobilmachung.

Zugleich entwickeln NATO-Strategen Szenarien, in denen das System gezielt gegen russische Atomstreitkräfte eingesetzt wird – in der Hoffnung, Enthauptungsschläge durchführen zu können. »Maven« wird in diesen Kreisen bereits als Mittel für einen Blitzkrieg des 21. Jahrhunderts gehandelt – wichtiger als Drohnenschwärme oder Panzerarmeen, wie sie aktuell unter Generalstrategen wie Boris Pistorius (SPD) in Deutschland reaktiviert werden.

Das System wurde bereits getestet – beim israelischen Vorgehen in Gaza, bei US-Angriffen auf Raketenstellungen im Jemen sowie gegen russische Truppen in der Ukraine. Diese Einsätze dienten der NATO als Testläufe, um »Maven« nun in ein selbstlernendes, hochgradig automatisiertes Kriegsinstrument zu überführen.

Wie im Kalten Krieg ist allerdings zu erwarten, dass auch Russland aufrüstet – sowohl »konventionell-atomar« als auch im Bereich KI. Schon die US-Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki zielten darauf, die Sowjetunion zu beeindrucken. Sie sollten verhindern, dass der Norden Japans von sowjetischen Truppen besetzt wird. Der Abwurf der Bombe ohne Wissen der Sowjets markierte den Beginn der »Atomic Diplomacy«. Erst 1949, mit dem sowjetischen Atomtest, endete die akute Gefahr eines erneuten US-Einsatzes.

Heute, mit der Einführung des »Maven Smart System«, steht die Welt möglicherweise vor einer vergleichbaren Zäsur. Das System zielt auf die Fähigkeit, einen Weltkrieg zu führen – basierend auf Technologie, von der man annimmt, dass der Gegner sie nicht besitzt. Der Zeitfaktor spielt dabei eine zentrale Rolle: Ein Vorteil könnte nur kurz nutzbar sein, bevor der Gegner aufholt. Alternativ könnte das System auch als Druckmittel eingesetzt werden – im Sinne einer modernen »atomaren Diplomatie«, diesmal KI-gestützt.

Ein möglicher indirekter Einsatz durch Drittstaaten – allen voran die Ukraine – wird ernsthaft erwogen. Damit wäre das System nicht sofort mit einem offiziellen NATO-Einsatz verknüpft, könnte aber zur Revision von Ergebnissen genutzt werden, die man sich am Verhandlungstisch abringen musste.

Ein Spiel mit dem Feuer. Der Ukraine-Konflikt besitzt zunehmend das Potential, sich zu einem globalen Krieg auszuwachsen – trotz aller diplomatischen Bemühungen zwischen den USA und Russland. Die Kombination aus totalem US-Handelskrieg und KI-gestützter NATO-Kriegführung durch Palantir markiert eine neue, gefährliche Eskalationsstufe – so sehr man sich ein Schweigen der Waffen in der Ukraine heute auch wünschen mag.

Sevim Dagdelen (BSW) war von 2005 bis Ende März 2025 Abgeordnete im Bundestag. Sie befasst sich schwerpunktmäßig mit Auf- sowie Abrüstungspolitik. Von ihr ist 2024 das Buch »Die NATO: Eine Abrechnung mit dem Wertebündnis« im Westend-Verlag erschienen

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