Gegen Israel und Dschihad
Von Wiebke Diehl
Die libanesische Regierung trage die »volle Verantwortung für jeden Aufruhr, der stattfinden könnte, für jede interne Explosion und für jede Zerstörung, die über den Libanon hereinbricht«. Sie setze »einen israelisch-US-amerikanischen Befehl um, den Widerstand zu beenden, selbst wenn dies zu einem Bürgerkrieg« führen sollte. Diese klaren Worte fand der Generalsekretär der libanesischen Hisbollah, Naim Kassem, Mitte August. Seine Worte waren die bislang deutlichste Reaktion auf den Beschluss der libanesischen Regierung von Anfang August, die Hisbollah zu entwaffnen. Die Minister der »Partei Gottes« und der ebenfalls schiitischen Amal-Bewegung hatten die entsprechende Kabinettssitzung verlassen, bevor der Beschluss gefasst wurde. Die Hisbollah hatte sich zuvor mehrfach unter der Voraussetzung, dass eine nationale Verteidigungsstrategie entwickelt und Israel abziehen würde, bereit erklärt, ihre Waffen und Kämpfer in den Staat einzugliedern.
Der Plan der libanesischen Regierung, der zu Recht auch in westlichen Mainstreammedien als Umsetzung einer Mitte Juni vorgelegten US-amerikanischen Zielsetzung bezeichnet wird, sieht eine Entwaffnung der Hisbollah bis Ende 2025 vor. Er birgt enormes Explosionspotential und ist geeignet, das fragile libanesische Gefüge erheblich zu beschädigen und im schlimmsten Fall sogar einen »Bürgerkrieg« auszulösen. Im Visier sind auch die palästinensischen Organisationen im Libanon, denen bislang zugestanden wird, innerhalb der Lager Waffen zu tragen.
Ministerpräsident Nawaf Salam, der wie Präsident Joseph Aoun unter großem Druck des Westens und der Golfstaaten installiert wurde, hat selbst erklärt, er werde aus dem Ausland gedrängt, den vom US-Sonderbeauftragten für den Libanon, Tom Barrack, vorgelegten Vierstufenplan umzusetzen. Unter anderem halten die USA und die Golfstaaten Kredite sowie Investitionen in den Wiederaufbau des vom Krieg mit Israel gezeichneten und in einer schweren Wirtschaftskrise befindlichen Libanon zurück, wie die Nachrichtenagentur Bloomberg am 9. August berichtete. Die libanesische Armee hat erklärt, weder personell noch technisch in der Lage zu sein, eine Entwaffnung der Hisbollah durchzuführen. Sollten statt dessen ausländische Militärs intervenieren, ist eine schwerwiegende Eskalation noch wahrscheinlicher.
Unter den gegebenen Bedingungen wird die Hisbollah ihre Waffen nicht einfach abgeben. Sie hat unmissverständlich klargemacht, vor einem vollständigen Abzug Israels aus libanesischem Gebiet und dem Ende israelischer Angriffe sei nicht daran zu denken. Israel hat seit der am 26. November geschlossenen »Waffenruhe« Tausende Male libanesisches Territorium bombardiert und Hunderte von Wohnhäusern zerstört. Zudem hält die israelische Armee zusätzlich zu schon zuvor besetztem libanesischem Territorium wie den Schebaa-Farmen weiterhin fünf Stellungen im Zedernstaat besetzt. Für die »Partei Gottes« sind ihre Waffen eine Überlebensfrage. Zugleich würde sie als rein politische Kraft ihren Gründungsmythos aufs Spiel setzen.
Die Hisbollah wurde in den 1980er Jahren als Widerstandsbewegung gegen die israelische Besatzung im Libanon gegründet. Ihre Anfänge reichen ins Jahr 1982 zurück, als Israel gerade zum zweiten Mal den Zedernstaat überfallen hatte und diesmal sogar bis in die Hauptstadt Beirut vorgerückt war. Das in Teilen der politischen Riege im Libanon über Jahrzehnte vorherrschende Credo, eine schwache Armee schütze vor Überfällen, weil sie von Israel nicht als Bedrohung wahrgenommen werde, hatte sich als fatale Fehleinschätzung herausgestellt.
Der bewaffnete Widerstand organisierte sich sowohl im Umfeld säkularer als auch islamischer Gruppen zunächst dezentral und locker. Man setzte auf einen – freilich völlig asymmetrischen – Zermürbungskrieg und die Entführung israelischer Soldaten, in der Hoffnung, die gegnerische Armee zu vertreiben. Mit dem Einverständnis Syriens, das seit 1976 im Zuge des sogenannten Bürgerkriegs, in dem allerdings zahlreiche bewaffnete Stellvertreter äußerer Mächte gegeneinander kämpften, Soldaten im Libanon stationiert hatte, trainierten etwa 1.500 iranische Revolutionsgardisten die Hisbollah, die zum stärksten bewaffneten nichtstaatlichen Akteur weltweit und zu Israels ernstzunehmendstem Gegner werden sollte.
Zugleich verstand sie sich als defensive Kraft, entstanden aus der Notwendigkeit, sich gegen israelische Angriffe zu verteidigen. Um unprovozierte Angriffe oder einen Export des Islam, wie im Westen gerne unterstellt wird, ging es nie. Bereits 1996 sagte der über drei Jahrzehnte bis zu seiner Tötung am 27. September 2024 amtierende Generalsekretär Hassan Nasrallah, ein islamisches System dürfe nur eingeführt werden, wenn mindestens 90 Prozent der Bevölkerung dies befürworteten, was im multikonfessionellen Libanon völlig utopisch wäre. Die Hisbollah positioniert sich dezidiert gegen die US-amerikanische Einflussnahme sowie gegen US-amerikanische Kriege und Besatzung in Westasien. Für die ihr angedichtete Urheberschaft an im Ausland begangenen Anschlägen, so etwa in Argentinien, Paris oder Bulgarien, konnten nie Beweise vorgelegt werden. Auch die ihr angelastete Ermordung des ehemaligen libanesischen Premierministers Rafiq Hariri im Jahr 2005, die aller Wahrscheinlichkeit nach eine False-Flag-Operation darstellte, um die Hisbollah zu beschuldigen, zu schwächen und letztlich zu entwaffnen, weist sie vehement von sich.
Die Hisbollah hat sich aus dem libanesischen »Bürgerkrieg« (1975 bis 1990) – mit Ausnahme des »Bruderkriegs« mit der ebenfalls schiitischen Amal-Bewegung, der im nachhinein als großer Fehler bezeichnet wurde – weitgehend herausgehalten. Das Trauma des »Bürgerkriegs« spielt in ihrem Diskurs eine herausragende Rolle. Regelmäßig betonen hochrangige Vertreter, ein neuerliches innerlibanesisches Töten müsse unter allen Umständen vermieden werden. Im Verhältnis zu ihrer islamischen und schiitischen Identität hat die libanesische Dimension in den zurückliegenden vierzig Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen. Seit dem Jahr 1992 ist die Hisbollah im Parlament vertreten, 2005 war sie zum ersten Mal an einer Regierung beteiligt. Im Jahr 2006 schloss sie sich mit der maronitischen Freien Patriotischen Bewegung des späteren, bis 2022 amtierenden Präsidenten Michel Aoun und anderen Parteien zu einem Bündnis zusammen.
Wenn sich auch im Libanon an dieser Frage die Geister scheiden, so erkennt doch die Mehrheit der Bevölkerung – über Konfessionsgrenzen hinweg – die Hisbollah, der im Taif-Abkommen, das den »Bürgerkrieg« formal beendete, als einziger Kraft zugestanden wurde, ihre Waffen zu behalten, für ihre Verteidigung des Libanon an. Es ist unumstritten, dass sie maßgeblich für den israelischen Abzug aus den meisten besetzten Gebieten Libanons im Jahr 2000 sorgte. 2006 hielt sie der stärksten Armee der Region in einem 33tägigen Krieg stand – woran bis dato alle arabischen staatlichen Armeen gescheitert waren. Im Libanon-Krieg 2006 setzte Israel erstmals die »Dahiya-Doktrin« (benannt nach den südlichen Vororten Beiruts, einer Hochburg der Hisbollah) um, die erklärtermaßen darauf abzielte, mittels großflächiger Zerstörungen auf dem Flughafen Beirut, an Raffinerien, Schulen, Straßen und Brücken sowie zivilen Wohnhäusern die Unterstützung großer Teile der Bevölkerung für die Hisbollah zu brechen. Die nach 33 Tagen des Kriegs vom UN-Sicherheitsrat verabschiedete – und nie umgesetzte – Resolution 1701 forderte unter anderem die Entwaffnung aller bewaffneten Kräfte außerhalb der libanesischen Armee, womit insbesondere die Hisbollah gemeint war.
Eine Ende Juli und Anfang August vom libanesischen Beratungszentrum für Studien und Dokumentation durchgeführte Meinungsumfrage hat ergeben, dass mit 58 Prozent die Mehrheit der Libanesen eine Entwaffnung der Hisbollah, ohne dass zuvor eine Verteidigungsstrategie entwickelt wurde, ablehnt. Dies sagten 96 Prozent der Schiiten, 50 Prozent der Drusen, 46 Prozent der Sunniten und 32 Prozent der Christen. 71,7 Prozent der Befragten gaben an, nicht zu glauben, dass die libanesische Armee in der Lage sei, israelischen Angriffen entgegenzutreten. 76 Prozent waren der Überzeugung, dass die diplomatischen Beziehungen des Libanon nicht ausreichen, Israel von Angriffen auf das Land abzuschrecken. Der Beschluss des libanesischen Kabinetts, die Hisbollah zu entwaffnen, ist also nicht nur durch die Armee nicht umsetzbar, er widerspricht auch dem Mehrheitswillen der libanesischen Bevölkerung, was sich auch in Protesten gezeigt hat. Und Israel ist nicht die einzige Sorge der Libanesen. 68 Prozent befürchten auch, eine Entwaffnung der Hisbollah könne den Weg bewaffneter Gruppen aus Syrien in den Libanon ebnen. 73 Prozent sehen in den Ereignissen in Syrien – also der Machtübernahme durch den Al-Qaida-Ableger Haiat Tahrir Al-Scham (HTS) im Dezember vergangenen Jahres und den von diesen begangenen Massakern an Syriens Minderheiten – eine existentielle Bedrohung, 74 Prozent meinen, Libanons Sicherheit und Stabilität seien dadurch bedroht.
Mitte Juli drohte Barrack, der außerdem US-amerikanischer Botschafter in der Türkei und Washingtons Sondergesandter für Syrien ist, im Interview mit der Tageszeitung The National, Milizen aus Syrien könnten den Libanon überfallen und wieder zu einem Teil »Großsyriens« (Bilad Al-Sham) machen, sofern Beirut die Entwaffnung der Hisbollah nicht durchführe. Als der selbsternannte und demokratisch nicht legitimierte »Präsident« Syriens und HTS-Anführer Abu Mohammed Al-Dscholani, der sich inzwischen wieder mit seinem bürgerlichen Namen Ahmad Al-Scharaa ansprechen lässt, im Mai zum ersten Mal zugab, mit Israel über ein »Normalisierungsabkommen« zu verhandeln, soll er nach Angaben der israelischen Zeitung I24NEWS den Anspruch formuliert haben, große Teile des Nordlibanon, inklusive Tripoli, und Teile der strategisch bedeutenden Bekaaebene zu übernehmen. Im Gegenzug würde Syrien auf die Golanhöhen verzichten. Sorge weckt auch die Hinnahme einer fortschreitenden israelischen Besatzung seitens der De-facto-Machthaber in Syrien, durch die sich viele Libanesen ebenfalls bedroht fühlen. Der US-Plan zur Entwaffnung der Hisbollah sieht auch erhebliche Grenzverschiebungen vor. So soll der Libanon die Schebaa-Farmen und die Hügel von Kfar Schuba an Syrien abgeben, Israel soll den gesamten Berg Hermon übernehmen, den der Libanon und Syrien als ihr Territorium beanspruchen.
Die Drohung Barracks erfolgt auch nicht im luftleeren Raum: Gemeinsam mit der libanesischen Armee führte die Hisbollah während des Syrien-Kriegs mehrere Offensiven durch, um eingedrungene Kämpfer, die Attentate begingen und Einheimische entführten, zurückzuschlagen. Seither gilt sie neben ihrer Rolle als Verteidigerin vor israelischen Angriffen auch als Garantin gegen die dschihadistische Bedrohung. Ihr direktes Eingreifen im Syrien-Krieg hat sie ebenfalls mit der Gefahr, die von den dortigen Kopfabschneiderbanden für den Libanon ausging, begründet. Das Risiko, dass diese sich mit terroristischen Zellen, die insbesondere im Nordlibanon aktiv sind und nach dem Sturz der Regierung Assad mit billigen Waffen überschwemmt wurden, verbünden, ist heute so real wie damals. Seit dem HTS-Putsch gegen die Regierung Assad ist es immer wieder zu Angriffen dschihadistischer Milizen aus Syrien in der Grenzregion zum Libanon und auch zu Grenzübertritten gekommen. Aus dem Nordlibanon mehren sich seit geraumer Zeit Berichte von erstarkenden IS-Zellen und einem Aufschwung anderer dschihadistischer Gruppen.
Hasan Nasrallah hatte kurz vor seinem Tod vor genau einem solchen Projekt gewarnt: »Die Geheimdienste könnten versuchen, sektiererische Konflikte (…) wiederzubeleben, um (…) die Einheit der Muslime angesichts des zionistischen Projekts« zu unterdrücken. Auch in Syrien hatten die USA, weitere westliche Staaten, die Golfstaaten, die Türkei und Israel dschihadistische Banden unterstützt, um durch den Sturz der Regierung Assad ihr imperialistisches Projekt eines »neuen Nahen Ostens« voranzutreiben und die Hisbollah sowie andere Gruppen der »Achse des Widerstands« zu beseitigen.
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