Der mühsame Pfad zum »totalen Frieden«
Von Elias Korte, Cali
Als Gustavo Petro 2022 zum Präsidenten gewählt wurde, verbanden viele Kolumbianer mit ihm eine historische Hoffnung. Zum ersten Mal übernahm ein linker Politiker, dazu ein ehemaliger Guerillero, die Führung eines Landes, das seit Jahrzehnten von Bürgerkrieg, extremer Ungleichheit und staatlicher Repression geprägt ist. Eines seiner ehrgeizigsten Projekte trägt den Titel »Paz total«, der »totale Frieden«. Petro versprach, nicht nur mit einer einzelnen Guerilla, sondern mit sämtlichen bewaffneten Gruppen in Verhandlungen zu treten und so den Krieg zu beenden. Frieden sollte dabei nicht allein die Abwesenheit von Waffen bedeuten, sondern auch soziale Gerechtigkeit, Inklusion vernachlässigter Regionen und eine echte Landreform.
Drei Jahre später fällt die Bilanz ernüchternd aus. Statt Entspannung erleben viele Regionen eine Zunahme bewaffneter Präsenz. Wo früher die Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) im Zentrum des Konflikts standen, besteht heute ein Mosaik aus rivalisierenden Gruppen. Das Friedensabkommen von 2016 eröffnete zwar den Weg zur Entwaffnung der FARC, doch das Machtvakuum wurde vom Staat nicht gefüllt. Nutznießer waren neue und alte Akteure, die ihre Präsenz ausweiteten.
Die Guerillaorganisation Ejército de Liberación Nacional (ELN), heute mit rund 6.000 Kämpfern die größte des Landes, hat ihre Kontrolle ausgebaut. Politische Motive spielen noch eine Rolle, doch entscheidend sind Einnahmen aus Kokain, illegalem Bergbau und Erpressung. Daneben existieren zwei Nachfolgeorganisationen der FARC: der Estado Mayor Central, hervorgegangen aus Fronten, die nie abrüsteten, sowie die Segunda Marquetalia, 2019 von ehemaligen Kommandanten gegründet, die sich erneut bewaffneten. Beide berufen sich rhetorisch auf Guerillatraditionen, handeln praktisch aber nach ökonomischen Logiken.
Noch größer ist die Macht des Clan del Golfo. Mit bis zu 14.000 Mitgliedern gilt er als wichtigste bewaffnete Struktur, und er kontrolliert fast die Hälfte des Kokainexports. Der Clan verfolgt keine politischen Ziele, sondern agiert wie ein mafiöses Netzwerk, eng verflochten mit Eliten und Teilen der Sicherheitskräfte. Seine Ursprünge liegen im Paramilitarismus.
Petros Ansatz, mit allen bewaffneten Akteuren zu verhandeln, war neu und ambitioniert. Die Realität holte ihn schnell ein. Die Gespräche mit der ELN liegen seit Monaten auf Eis. Beim Estado Mayor Central ist die Organisation gespalten: Ein Teil sitzt am Verhandlungstisch, eine andere Fraktion führt Krieg im Cauca. Die Segunda Marquetalia zerfiel erneut, und mit dem Clan del Golfo gibt es nur begrenzte Fortschritte. Deshalb wurde Katar als neutrales Garantieland gewählt. Erfolgreiche Verhandlungen gelangen bisher lediglich mit kriminellen Stadtbanden auf lokaler Ebene sowie mit kleinen Abspaltungen der ELN und mit FARC-Dissidenten.
Am deutlichsten zeigt sich die Krise mit Blick auf die einzelnen Regionen. Im Catatumbo an der Grenze zu Venezuela eskalierten die Kämpfe zu Jahresbeginn. Über 65.000 Menschen flohen, rund hundert wurden getötet. Die ELN operiert teilweise von venezolanischem Territorium aus – ein Hinweis, dass Frieden ohne Nachbarländer kaum möglich ist. Auch im Cauca nehmen Massaker, Angriffe auf Aktivisten und Kämpfe zu. Dort ringen Guerillas, Drogenkartelle und Goldminenprojekte um Einfluss. Für die Gemeinden spielt es kaum eine Rolle, welche Gruppe gerade herrscht – entscheidend ist, dass ihr Land dauerhaft umkämpft bleibt und die Bevölkerung zwischen die Fronten gerät.
Die Umsetzung des Abkommens von Havanna, das als Grundlage politischer Befriedung gedacht war, bleibt unvollständig. Zwar hat Petros Regierung mehr Land verteilt als alle Vorgänger, doch im Vergleich zu den vereinbarten drei Millionen Hektar sind die bisher rund 300.000 nur ein Anfang. Besonders dramatisch ist die Lage für ehemalige FARC-Kämpfer: Fast 500 wurden seit 2016 ermordet. Viele fühlen sich im Stich gelassen, einige kehrten in bewaffnete Strukturen zurück.
Der Konflikt hat sich entideologisiert und fragmentiert. Revolution oder Konterrevolution spielen kaum noch eine Rolle. Heute geht es um Kontrolle illegaler Märkte, Ressourcen und Territorien. Kämpfe finden vor allem zwischen den Gruppen statt, während der Staat oft abwesend bleibt. Für die Bevölkerung bedeutet das, dass das ursprüngliche Versprechen des Friedensprozesses – eine wirkliche staatliche Präsenz in den Regionen – nicht eingelöst ist. Wo der Staat fehlt, übernehmen andere Akteure Verwaltung, Rechtsprechung und Gewaltmonopol.
Für Kolumbiens erste Linksregierung ist die Sicherheitslage zur zentralen Belastung geworden. Zwar gibt es Fortschritte bei Armutsbekämpfung, Landreform und Wirtschaft, doch die Ausbreitung bewaffneter Gruppen bietet der Rechten Munition für Law-and-Order-Rhetorik. Damit steht auch die Zukunft des »totalen Friedens« auf dem Spiel. Er bleibt notwendig, weil nur ein umfassender Ansatz die Gewaltspirale durchbrechen könnte – und zugleich fast unerreichbar, da die Akteure vor allem ökonomische Gewinne verfolgen.
Die Ironie ist bitter: Unter der ersten progressiven, friedensbemühten Regierung nimmt die nichtstaatliche Gewalt wieder zu. Nicht, weil Petro untätig wäre, sondern weil sich ein horizontalisierter, von Profiten und internationalen Geldern getriebener Krieg politischer Kontrolle entzieht. Eine friedliche Zukunft entscheidet sich weniger an den Verhandlungstischen als in den Regionen, wo der Staat schwach ist und bewaffnete Gruppen den Alltag bestimmen – und in einem international koordinierten Vorgehen gegen die Gewaltökonomien.
Elias Korte ist freier Journalist, lebt in Kolumbien und schreibt regelmäßig für die Tageszeitung junge Welt
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