Fanliebe und Leidensdruck
Von Michael Merz
Belächelt haben sie ihn, den Urs Fischer. Für seine Tiefstapelei war er schon bekannt, damals im Sommer vor zwei Jahren. Da hatte Union Berlin gerade die bisher beste Saison gespielt, dreimal hintereinander war der Verein in Wettbewerbe des internationalen Fußballs gezogen, nun sogar in die Champions League. Es war immer nur bergauf gegangen, unaufhörlich. Und der Trainer? Verkündet als Ziel lediglich 40 Punkte, den Klassenerhalt! Seinen Job sollte Fischer dann nur noch wenige Monate haben, an seinem realistischen Blick lag es nicht. Denn er hatte recht: Die Mannschaft konnte sich nur mit Müh und Not gegen den Abstieg behaupten. Mittlerweile ist Fischer in Köpenick ein Legendenstatus anhängig. Auch in Zeiten von unglaublichen Höhenflügen – bei jenem nach der Saison 22/23 galt es schon fast als blasphemisch, wenn Club-Präsident Dirk Zingler darauf aufmerksam machte, dass man wohl nicht immer Champions League spielen werde – schützt Nüchternheit vor allzu großen Enttäuschungen.
Was steck
Die Bundesliga entpuppt sich immer als große Wundertüte. Unerwartetes nimmt seinen Lauf, Überraschendes passiert, und manchmal sind sogar die Bayern von der Tabellenführung weggekickt. Was den Unionern blühen wird, steht in den Sternen. Vier Trainer später ist in Köpenick das Saisonziel gleich geblieben. Bjelica, Grote, Svensson hießen Fischers Erben. Nun versucht seit Anfang des Jahres Steffen Baumgart sein eigenes Erfolgsrezept. Anfänglich startete er holprig während eines Tiefpunkts im Ligabetrieb, dann bedankte sich der einstige Stürmer und Publikumsliebling mit einer ansehnlichen Punktezahl für die Vorschusslorbeeren. Der Klassenerhalt war diesmal wieder vor dem letzten Spiel sicher. Der bullige Käppiträger ist an der Seitenlinie stets auf 180, dröhnt, feuert an, kommandiert, pfeift auf zwei Fingern lauter als mancher Schiri. In welcher Intensität Spieler und Trainer mit der Zuschreibung »Fußballgott« begrüßt werden, ist im Stadion An der Alten Försterei Gradmesser. Baumgart fliegen demnach zu urteilen die Herzen zu. Dass der kleine Club aus dem Osten im Oberhaus weiter mitspielt, auch wenn die medialen Flutlichter nicht mehr so grell scheinen wie zu den Gastspielen in der Champions League, ist auch sein Verdienst.
Die siebte Saison soll keine verflixte werden. Und wo im Fußball die Fanliebe herrscht, ist der Leidensdruck oft nicht weit. Der oder die Zwölfte im Spiel ist in Köpenick stets ein nicht zu unterschätzender Faktor. Und so hagelte es den Zorn des Baumgart auf jene mediale Berichterstattung, die im Trainingslager eine vermeintliche Unnahbarkeit der Mannschaft ausgemacht haben wollte. Auf den Trainingsplätzen von Adidas in Herzogenaurach spielte sich das Team diesmal warm, ziemlich professionell das Ganze – und nicht jede Einheit konnte von der mitgereisten Anhängerschar mitverfolgt werden. »Es geht darum, dass wir uns zu 100 Prozent auf eine ganz schwere Bundesligasaison vorbereiten«, ärgerte der Trainer sich später im klubeigenen Kanal. Da lasse er sich nur ungern einreden, nicht da zu sein für die Fans. Ohne Zweifel: Unermüdlich standen Spieler und Vereinsikonen nach den Testspielen für Autogramme und Selfies bereit. Für Nähe war ausreichend Zeit.
Währenddessen lief während der Kicks vor dem Ligastart nicht alles rund. Fußball ist schließlich ergebnisorientiert und die Vorbereitungsphase fast schon ein eigener Contest. Es traten Gegner mit äußerst diversen Voraussetzungen an: Bei Brandenburg Süd und Grün-Weiß Ahrensfelde hatte es lokale Fußballfeste gegeben, dem Stürmer Patrick Richter vom Oberligisten BSC gelang gar ein Traumtor in den Unioner Kasten. Die Köpenicker blieben erwartungsgemäß in beiden Spielen überragend. Der Zirkus zog weiter nach Österreich: Linzer ASK besiegt, Remis gegen Rapid Wien – und dann jeweils knapp verloren gegen Fürth und Schweinfurt. Weiter ging die Niederlagenserie auf heimischem Rasen gegen Espanyol Barcelona.
Zur offiziellen Saisoneröffnung am vergangenen Sonnabend im Stadion An der Alten Försterei sollte es für die Fans Grund zum Feiern geben. Ein großer Name trat an: der griechische Rekordmeister Olympiakos Piräus, gerade wieder amtierend. Der rituelle Weg zum Stadion ist für die Nostalgiker unter den Fans allerdings gerade ein schwerer. Am Bahnhof Köpenick steht kein Stein mehr auf dem anderen – Großbaustelle. Gänzlich kahlrasiert die Vegetation am langen Schienenstrang. Die »Union-Tanke«, für viele seit Jahren Station für das erste und letzte Bier mit Gleichgesinnten, ist Baugrund für neue Wohnhäuser geworden und längst dicht. Weiter zu den Zapfhähnen der »Abseitsfalle«: Bestimmendes Thema hier ist der Preis fürs neue Trikot – es ist mal wieder teurer geworden. Immerhin: Das Ticket kann sich jeder Fan weiter für einen schmalen Taler leisten, wenn er denn eines ergattert. Das Spiel gegen Piräus ist ausnahmsweise nicht ausverkauft. Und der für viele Jahre angesetzte Stadionumbau ist auch noch nicht so weit gediehen, dass der legendäre Waldweg weichen muss und der saisonale Umzug ins ungeliebte Olympiastadion ansteht.
Die Vorfreude steigt. Auf den Rängen, zwischen den Wellenbrechern der Stehplätze, ist alles wie immer im Wohnzimmer der Unioner. Die Stimmen werden geölt für erste Chöre, Stadionsprecher Christian Arbeit lässt das neue Team auf den Rasen. Frenetisch begrüßt werden sie, die alten Hasen wie Kapitän Christopher Trimmel, Torhüter Frederik Rönnow und die neuen Hoffnungsträger, Oliver Burke aus Bremen oder Ilyas Ansah aus Paderborn etwa. Nach Anpfiff passiert lange recht wenig – hier ein Schuss übers Tor, da eine Parade Rönnows. Piräus und Union tasten sich ab, ein ausgeglichenes Match. Dann passiert es: Der Portugiese Leonel Lima Silva Machado, Chiquinho wird er genannt, ballert in der 74. Minute den Ball ins linke obere Eck, keine Chance für Rönnow. Wieder ein Traumtor, doch diesmal können die Eisernen nichts mehr entgegensetzen, obwohl die Chancen da sind. Die 0:1-Niederlage steht. Eine schlechte Generalprobe soll ja ein gutes Zeichen sein. Und Steffen Baumgart klingt danach trotz vier Spielen ohne Treffer fast väterlich versöhnlich: »Tore schießen gehört zum Fußballspielen dazu, und hinten kann man immer einen bekommen.« Und allen medialen Unkenrufen, die die Vorstellung mit Blick in ihre Glaskugel schon als »beängstigend« charakterisieren, gab der Cheftrainer auf den Weg, von einem »Trauma« sei er »noch weit entfernt«. Eine Woche Training noch, dann wird’s ernst: Der kommende Freitag abend im DFB-Pokal gegen Gütersloh, der Ligastart gegen Stuttgart und dann Dortmund klingen nicht nach Zuckerschlecken.
Mittlerweile sorgt nicht mehr nur ein Team für volle Ränge im Stadion An der Alten Försterei. Zum Jubeln ist der gemeine Fan bei den Eisernen Ladys ebenso bestens aufgehoben. Kontinuierliche Aufbauarbeit zeitigt Erfolge, und seit dieser Saison gibt es somit zwei Bundesligisten aus Berlins Südosten. Durch die zweite Liga sind die Frauen durchmarschiert und treten künftig erstklassig an. Was die Männer am Sonnabend versemmelten, machten sie dann am Sonntag auswärts wett. Im Test gegen die Spielerinnen des VfL Wolfsburg – immerhin die Tabellenzweiten der vergangenen Saison – zeigten sie, dass von ihnen im Oberhaus einiges zu erwarten ist. Einen 0:2-Sieg konnten die Unionerinnen mit nach Hause nehmen. Dort steht für sie am kommenden Wochenende die eigene Saisoneröffnung an. Keine Geringeren als die Spielerinnen von Real Madrid kommen nach Köpenick. Es soll sogar noch Tickets geben.
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