Von Notenrollen und Interfaces
Von Barbara Eder
Klaviere sind mehr als Apparate zur Reproduktion von wohltemperierten Klängen. An dem zu Beginn des 18. Jahrhunderts am florentinischen Hof erfundenen Tasteninstrument schulte man nicht nur das Gehör, sondern auch das, was dazumal Charakter genannt wurde. Was im Palast Maria Theresias die feudale Unterhaltungsshow untermalte, wurde um 1800 zur bürgerlichen Pflichtübung: Das Klavierspiel wanderte vom aristokratischen Salon in die Stube der aufstiegswilligen Bourgeoisie. Fortan galt: Wer Söhne und Töchter mit Taktgefühl vorweisen konnte, bewies mehr als nur Geschmack. Zwischen Czerny-Etüden und Diabelli-Fugen wurde nicht bloß musiziert, sondern auch sozial markiert – als exquisites Möbelstück vereinte der Flügel im Klavierzimmer Klang, Klasse und Kontrolle.
Noch bevor es die ersten E-Pianos gab, hatten sie im Pianola ein Pendant. Die Tasten des automatischen Instruments werden per Notenrolle gesteuert, ein Papierstreifen mit Lochmuster aktiviert beim Durchlauf Hebel und Ventile. An die Stelle des koordinierten Zusammenspiels von Kopf und Hand tritt die mechanische Steuerung von Walzen und Rollen. Ein selbsttätiges Klavier verspricht, was jedem Pianisten bis heute abverlangt wird: mühelose Präzision, endlose Wiederholbarkeit und eingehende Kenntnis der Partitur. Das Pianola spielt ohne Hände und kommt den Hörgewohnheiten des Publikums dennoch nach. Der Mensch verschwindet, der Takt bleibt – die Tasten klimpern scheinbar »wie von Geisterhand«.
Lesekamm ersetzt Tonarm
Paul Ehrlich, ein heute nahezu vergessener Klavierbauer, Ingenieur und Erfinder aus Leipzig, stellte bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts fest, dass sich Musikstücke mit Hilfe von gelochten Scheiben per Handkurbel abspielen ließen. Anstelle eines Tonarms diente ein Lesekamm als Abtaster für das Lochmuster in der Scheibe. Um 1900 tauchten die ersten Pianolas auf europäischen Musikmessen auf – als neuartige Apparate, die im Dienst des Fortschritts operieren sollten. Die technische Raffinesse täuschte über eine simple Tatsache hinweg: Das Pianola reproduzierte, es improvisierte nicht. Gespeicherte Daten werden dabei in Klänge übersetzt, der Prozess selbst jedoch nicht reflektiert.
Eine Notenrolle ist ein Medium mit binären Steuerinformationen: Länge, Position und Anzahl der Löcher sind codierte Entsprechungen für Töne, Tonhöhen und Dauer. Erfunden wurde diese »Maschinensprache« nicht im Rechenzentrum, sondern am Webstuhl. Um 1805 entwickelte der französische Tüftler Joseph-Marie Jacquard ein System aus gestanzten Karten, mit dem sich komplexe Muster mechanisch herstellen ließen – nicht mehr die Weberin oder der Weber bestimmte den Fadenlauf, sondern die gelochte Vorlage. Was als Vereinfachung in der Textilindustrie begann, wurde im 19. Jahrhundert zu einer Methode der Datenverarbeitung. 1890 nutzte Herman Hollerith Lochkarten für den US-Zensus, um die erhobenen Bevölkerungsdaten maschinell auszuwerten – in Papier eingestanzte Anweisungen zur Auswertung von Informationen, durch die sich Massen erfassen ließen.
»Keineswegs weiß man bestimmt, wie die Fetischisierung der Technik in der individuellen Psychologie der einzelnen Menschen sich durchsetzt, wo die Schwelle ist zwischen einem rationalen Verhältnis zu ihr und jener Überwertung, die schließlich dazu führt, daß einer, der ein Zugsystem ausklügelt, das die Opfer möglichst schnell und reibungslos nach Auschwitz bringt, darüber vergißt, was in Auschwitz mit ihnen geschieht«, bemerkte Theodor W. Adorno 1966 in seinem für den Hessischen Rundfunk verfassten Radiovortrag »Erziehung nach Auschwitz«. Damit brachte er den Missbrauch von Technik infolge ihrer maßlosen Überhöhung auf den Punkt. »Hollerith erfasst« – so lautete der Stempel auf vielen Karten des KZ-Verwaltungssystems der SS, die seit Sommer 1944 zu Lochkarten weiterverarbeitet wurden. Die IBM-Tochter Dehomag – die »Deutsche Hollerith-Maschinen Gesellschaft mbH« – war alleinige Lizenznehmerin und Herstellerin der Hollerith-Lochkartenmaschinen im »Deutschen Reich« und hatte den technischen und logistischen Zugriff auf sämtliche Geräte.
Erweitertes Feld der Wahrscheinlichkeiten
Marx bemerkte spöttisch, dass mathematische Gesetze leicht zu begreifen, ihre technische Übersetzung aber um so komplexer sei. Heute, mehr als hundert Jahre nach den ersten selbsttätigen Klavieren und 80 Jahre nach der Befreiung vom Nazifaschismus, darf man maschinellen Datenverarbeitungssystemen durchaus kompositorische Aufgaben zumuten. Das digitale Kompositionssystem »Ricercar: An AI-based Musical Companion« des Komponisten Ali Nikrang wurde am Ars Electronica Futurelab in Linz entwickelt und ist dahingehend ein aktuelles Beispiel: Es kann mit Musikern und Musikerinnen interagieren, ihre Ideen entgegennehmen, Muster fortführen und Vorschläge generieren.
Software, die anhand von musikalischen Sequenzen trainiert wurde und infolgedessen Stile und Harmonien erkennen kann, ist nur ein Teil von »Ricercar«. Auf Basis probabilistischer Modelle erzeugt sie Variationen – statistisch wahrscheinlich, aber nicht zwingend neuartig. Ricercar »weiß« nichts und »komponiert« somit auch nicht im schöpferischen Sinn. Es erweitert nur das Feld der Wahrscheinlichkeiten innerhalb der gelernten Parameter – dies aber auf durchaus eigenwillige Weise.
Kalkulierte Überraschung
Zur Mitte des 19. Jahrhunderts träumte der ungarische Hofbeamte Wolfgang von Kempelen noch von Maschinen, welche die für ihn idealen Eigenschaften verkörpern sollten: Gehorsam, Pflichtbewusstsein und Planbarkeit. Bei seiner Schachmaschine, die als »der Türke« um die Welt tourte, handelte es sich um einen Trickapparat: Ein versteckter Mensch, oft als kleinwüchsig beschrieben, steuerte die Züge im Inneren des Kastens. Beim Pianola ist der Mechanismus indes authentisch – es spielt tatsächlich von allein. Mit Ricercar wird diese Idee nochmals radikal überschrieben: Wo der Beamtenapparat loyal abarbeitete, was ihm aufgetragen wurde, setzt generative KI auf bewusste Abweichungen von Anweisungen. Sie produziert überraschende Wendungen, permutiert Melodien und bricht somit bewährte Muster auf – aus vormaligem Maschinengehorsam wird ein Spiel mit Kontingenz.
Mit Ricercar verschiebt sich das Paradigma: Nicht mehr die Maschine passt sich den Regeln an, statt dessen entstehen diese dynamisch im Zusammenspiel von Systemumwelt und Algorithmus. Die Automatisierung, die mit dem »Schachtürken« am Wiener Hof von Maria Theresia ihren spektakulären Anfang nahm, beruhte auf bewusster Täuschung. »Ricercar« hingegen steht für eine Ära des Neuanfangs: nicht mehr Reproduktion und Kontrolle, sondern Kokreation und kalkulierte Überraschung. Der alte Apparat, in dem Beamtenideal und totale Herrschaft miteinander verschmolzen, hat ausgedient. Es bleibt offen, ob dem neuen mehr zuzutrauen ist – oder ob er uns am Ende doch nur die gewohnten Muster in leichter Variation zurückspielt.
Barbara Eder ist freie Autorin aus Wien. Die promovierte Sozialwissenschaftlerin arbeitete unter anderem als Programmiererin für freie Radios und als Dozentin an Unis. Zuletzt erschien der Essayband »Das Denken der Maschine« im Wiener Mandelbaum-Verlag, 2026 folgt die Flugschrift »Baupläne von Paradiesen« im Hamburger Nautilus-Verlag.
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