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Aus: KI, Beilage der jW vom 09.07.2025
Datenarbeit

Künstliche Intelligenz, echte Ausbeutung

Prekär, traumatisiert, verstreut, machtlos: Hinter der KI stehen die Datenarbeiter
Von Max Grigutsch
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Arbeiter tragen Schutzhelme, denkt die KI. Bei der Datenarbeit ist die physische Verletzungsgefahr aber gering

Teleoperation – so nennen es die Robotaxi-Betreiber, wenn Menschen die Steuerung »selbstfahrender« Autos aus der Ferne übernehmen. Noch im Januar hatte Tesla-Chef Elon Musk geprahlt, dass seine KI-gelenkten Fahrzeuge schon im Juni dieses Jahres in der texanischen Stadt Austin »in freier Wildbahn« und »ohne dass jemand drinsitzt« unterwegs sein werden. Ende Juni räumte der US-Milliardär ein, dass seine Vision eine Farce war: Nur rund zehn seiner Autos fuhren an einem Sonntag testweise und unter ständiger Aufsicht von Teleoperateuren durch einige Straßen der Stadt.

Fast schon zur Binse verkommen ist der Satz, dass sich hinter der hochgelobten »künstlichen Intelligenz« die menschliche verbirgt. Was sich im Fall von Musks Zukunftsversprechungen regelmäßig mit einer gewissen Komik offenbart, ist Standard in der Robotaxi-Industrie. So beschäftigt der US-Marktführer Waymo ein Team, das einspringt, wenn die KI nicht mehr weiterweiß. Und das chinesische Unternehmen Baidu soll nach Angaben von Reuters »Robotaxis« eingesetzt haben, die gänzlich von Menschen ferngesteuert wurden.

Lässt man den Blick schweifen, findet sich menschliche Arbeit in jedem Produktions- und Anwendungsschritt von KI. Arbeitskraft ist erforderlich, um die Ressourcen der natürlichen Welt für KI-Systeme verwertbar zu machen, und später, um mit den resultierenden Klimafolgen umzugehen. Dann sind da die Kontrolleure, die Aufseher, die »humans in the loop«, die für die Überwachung und Weiterverarbeitung der KI-Outputs verantwortlich sind.

Weniger bekannt ist die Arbeit an den KI-Daten selbst. Wie diese Arbeit aussieht und unter welchen Bedingungen sie verrichtet wird, weiß Laurenz Sachenbacher. Er ist Teil des Forschungsprojekts Data Workers’ Inquiry am Berliner Weizenbaum-Institut. Es sei schwierig, die Tätigkeiten hinter der KI auf einen Nenner zu bringen, da es viele verschiedene Komponenten gebe, sagte der Wissenschaftler am 1. Juli im Gespräch mit junge Welt. Klar sei aber, dass die meisten Beschäftigten, die diese Jobs ausführen, »vorsätzlich prekarisiert, traumatisiert, global verstreut und damit politisch entmächtigt« sind.

Realitätscheck für die KI

»Datenarbeit, das ist die Arbeit, die gebraucht wird, um künstliche Intelligenz an sich zum Funktionieren zu bringen«, erklärte Sachenbacher. Denn grundsätzlich bestehe das sogenannte Grounding-Problem, also »das Problem, dass die Mustererkennung, die sich eine KI herleiten kann, nicht in der echten Welt verankert ist«. Diese Verankerung müsse von außen zugeschrieben werden – und dafür braucht es Datenarbeit, so der Forscher. Daten müssen eingegeben, annotiert und überprüft werden, damit die KI »lernt«.

Einen Einblick in diese Aufgaben bietet der Kurzfilm »Their Eyes«, der im Februar 2025 auf der Berlinale vorgeführt wurde. Der Film folgt dem Alltag sogenannter Klickarbeiter in Venezuela, Kenia und den Philippinen. Über Onlineplattformen bekommen sie Fotos vorgesetzt, die mehrheitlich aus dem US-Straßenverkehr stammen. Alles, was sie sehen, gilt es zu annotieren. Mit einzelnen Klicks müssen Gegenstände und Lebewesen umrahmt und beschriftet werden, damit die KI weiß: Das ist ein Auto, das eine Absperrung, ein Hund, ein Bauarbeiter, eine Autoritätsfigur. Nur so werden die KI-Systeme, die in den USA Robotaxis (halbwegs) autonom steuern, funktionsfähig.

In den Ländern, wo diese Arbeit überwiegend verrichtet wird, gibt es keine selbstfahrenden Taxis, die von den Datenarbeitern genutzt werden könnten. Der mühsame Erwerb bringt den Werktätigen meistens nicht einmal genug Geld ein, um die eigene Existenz zu sichern. Arbeitsplatzsicherheit, Sozialleistungen? Fehlanzeige. »Wir sind Sklaven«, konstatiert einer der im Film porträtierten Arbeiter. Und: Manche Plattformen gehen weiter als andere. »Ich habe herausgefunden, dass alle meine Zahlungen auf mein Amazon-Guthaben statt auf mein Bankkonto gutgeschrieben werden und dass das meine einzige Option ist«, erklärt Alexis Chávez aus Venezuela. Als Datenarbeiter auf der Plattform Amazon Mechanical Turk ist er am Projekt Data Workers’ Inquiry beteiligt, sein Bericht wurde 2024 auf dessen Website veröffentlicht. Das Problem leuchtet ein: »Das Guthaben kann nicht zur Deckung der Grundbedürfnisse verwendet werden«, heißt es weiter.

Global arbeiten 154 bis 435 Millionen sogenannte Gig-Arbeiter auf derartigen digitalen Plattformen, wie ein Weltbank-Bericht von 2023 nahelegt, also 4,4 bis 12 Prozent der globalen Arbeitskraft. »Das sind nicht alles Datenarbeiter«, ordnete Sachenbacher die Zahl gegenüber jW ein. Aber die Nachfrage steige. Auf Remotasks, eine der größten Plattformen, betätigen sich weltweit rund 500.000 Leute, so der Forscher. Das seien »eigentlich immer Menschen aus verletzlichen Populationen, die in ökonomischen Abhängigkeiten sind«, sagte er. »Das machst du nur, wenn du keine anderen Möglichkeiten hast.«

Die Anbieter geben ihre Aufträge dort frei, wo sie am billigsten zu erfüllen sind. Ändern sich die Bedingungen zugunsten der Arbeiter, machen die Plattformen einen Abflug – ohne viel Aufwand, da es sich oft um einfache Websites handelt. So hat sich Remotasks 2024 aus Kenia zurückgezogen. Der mutmaßliche Grund: Die Arbeiter hatten begonnen, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Remotasks habe sich statt dessen in Ghana angesiedelt, wo Datenarbeiter noch keine Vertretung organisiert haben, erklärte Sachenbacher. Das mache jeglichen Arbeitskampf extrem schwierig.

Datenarbeit für den Krieg

So prekär die Arbeit ist, so undurchschaubar ist sie auch für die Werktätigen selbst. Diese wissen oft gar nicht, wofür ihre Arbeit genutzt wird – oder wer ihre Auftraggeber sind. Das sei ein Problem, so Sachenbacher, denn es trage zur Entfremdung der Beschäftigten bei. Ihre Arbeit stecke womöglich in den Kriegsgeräten, die aktuell im Genozid in Gaza und im Ukrainekrieg im Einsatz sind. Diese Vermutung bestätigt der NSA-Whistleblower Thomas Drake. Militärische KI stütze sich bereits auf »annotierte Datensätze zur Zielidentifizierung, bei denen Arbeiter Objekte wie Fahrzeuge oder Personen in Drohnenaufnahmen kennzeichnen, um die Genauigkeit der KI sowie die Navigation und Geländeanalyse zu verbessern«, erklärte der frühere Kryptolinguist der US-Luftwaffe am 30. Juni auf jW-Anfrage. Dabei würden etwa »Umweltmerkmale annotiert, die einen autonomen Flug in komplexen Umgebungen ermöglichen, und sogar Verhaltensvorhersagen getroffen, indem Bewegungsmuster gekennzeichnet werden, damit die KI Bedrohungen antizipieren kann«.

Auch im militärischen Bereich würden die Tätigkeiten an Gig-Arbeiter im globalen Süden ausgelagert, sagte Drake. Er befürchte, dass die Ausbeutung von Datenarbeitern bald vollständig autonome Drohnenangriffe ermöglichen könnte. Der »human in the loop« sei zwar noch der Regelfall. Es gebe aber »enorme und wachsende Risiken«, dass Datenarbeiter »unwissentlich vollständig autonome Offensivsysteme trainieren könnten«, so Drake.

Data Workers’ ­Inquiry: KI mit Marx verstehen

»Eine der Grundprämissen marxistischer Theorie ist, dass nur lebendige Arbeit Mehrwert und damit Profit schafft«, meint Laurenz Sachenbacher vom Forschungsprojekt Data Workers’ Inquiry am Berliner Weizenbaum-Institut. Das zeige sich auch an der Datenarbeit. Gleichzeitig würden die Untersuchungen genau auf die Tendenz hinweisen, die Marx im »Kapital« und zuvor in den »Grundrissen« prophezeit hatte: dass der Mensch zum bloßen Anhängsel der Maschine wird, die zunehmend als bestimmende, »fremde Macht« auf ihn wirkt.

Der Forschungsansatz von Data Workers’ Inquiry stützt sich auf den von Marx verfassten »Fragebogen für Arbeiter« aus dem Jahr 1880. Dieses Grundwerk der empirischen Sozialforschung diente einerseits dazu, die Bedingungen zu erkunden, unter denen das französische Proletariat schuftete. Andererseits sollte der Bogen das Klassenbewusstsein der Befragten stärken. »Wir haben uns davon inspirieren lassen«, sagte Sachenbacher. Auch im Kontext von digitalen Arbeitskämpfen seien die arbeitenden Menschen »das revolutionäre Subjekt unserer Zeit«.

Es gelte, die Beschäftigten ins Zentrum der Forschung zu setzen, »ihre strategische Stärke zu verstehen und sie bei ihrer Selbstorganisierung zu unterstützen«. Data Workers’ Inquiry bezieht die Datenarbeiter selbst als Forschende in das Projekt mit ein. So konnten die Wissenschaftler zum Beispiel den Aufbau der kenianischen Data Labelers Association unterstützen. Die Struktur hat sich im Februar 2025 mit dem Ziel gegründet, die Arbeitsbedingungen der Datenarbeiter zu verbessern und die Industrie zu transformieren.

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