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Aus: KI, Beilage der jW vom 09.07.2025
Marxismus

Politische Ökonomie der künstlichen Intelligenz

Arbeit, Wert und Wertverfall: Lässt sich mit Marx der moderne Kapitalismus verstehen?
Von Peter Schadt
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Karl Marx kennt die KI nicht. Fragt man allgemeiner nach altem, weißhaarigen Philosophen, ist das Resultat offensichtlich: Sigmund Freud

Marx wird in der modernen Ökonomik nicht totgeschwiegen. Er gilt vielmehr als Klassiker, der »wichtige Impulse« für eine »kritische Betrachtung« des Kapitalismus geliefert habe, allerdings mit seinem Fokus auf die Arbeit als »vermeintliche« Quelle des Werts so hoffnungslos veraltet ist wie die Nationalökonomen von Adam Smith bis David Ricardo, die zu kritisieren er angetreten war. So findet Marx seinen Platz in der Ahnengalerie der Volkswirtschaftslehre.

Kaum überraschend, dass schon in den 1980ern in VWL-Lehrbüchern zu lesen war, dass nur die überzeugten Marxisten diese Entwicklung hin zur – heute alle Ökonomik beherrschenden – subjektiven Wertlehre nicht mitgemacht haben. Wer daher an der politischen Ökonomie der künstlichen Intelligenz forscht und zu jenen Unverbesserlichen gezählt wird, hat es nicht nur damit zu tun, dass die marxistischen Grundbegriffe von Ausbeutung und Arbeit bis Wert und Ware innerhalb dieser Theorie selbst umstritten sind. Derjenige muss sich auch ganz prinzipiell die Kritik gefallen lassen, einem unzeitgemäßen Dogmatismus anzuhängen: Ausgerechnet mit Marx die KI und damit die Veränderung der modernen Arbeitswelt begreifen zu wollen.

Der Wert der Dinge

Für die subjektive Wertlehre bestätigt sich mit der KI indes das ihr ganz eigenes Dogma, dass nicht die Arbeit, sondern der Nutzen der Dinge ihren Wert bestimmt. Das hat William Jevons schon in den 1870er Jahren in seiner »Theorie der Politischen Ökonomie« postuliert und ist heute Allgemeingut: »Brot hat den fast unendlich großen Nutzen, das Leben zu erhalten, und wenn es eine Frage von Leben und Tod wird, so übertrifft eine kleine Menge Nahrungsmittel an Wert alle anderen Dinge. Aber wenn wir uns unserer gewöhnlichen Lebensmittelversorgung erfreuen, hat ein Laib Brot wenig Wert«, heißt es in diesem Klassiker. Ein Triumph besonderer Art über die Arbeitswertlehre: Man muss sich nur eine Gesellschaft ohne »gewöhnliche Lebensmittelversorgung« vorstellen, in der also gerade nicht das Brot per Arbeit hergestellt werden kann, und schon ist die Arbeit – die man sich im Gedankenexperiment explizit weggedacht hat – auch nicht mehr bestimmend für den Wert.

Das ist nicht etwa ein Fauxpas, sondern die systematische Kritik, mit der sich die subjektive Wertlehre von den vorgeblich anachronistischen politischen Ökonomen emanzipiert hat: »Die bloße Tatsache, dass es viele Dinge gibt, wie seltene alte Bücher, Münzen, Antiquitäten usf., welche hohen Wert besitzen und heute überhaupt nicht erzeugt werden können, vernichtet die Vorstellung, dass der Wert von der Arbeit abhängt. Sogar jene Gegenstände, welche in jeder Menge durch Arbeit hervorgebracht werden können, werden selten genau zu den entsprechenden Werten getauscht.« Wenn man also nur entschlossen genug vom Gegenstand der politischen Ökonomie wegschaut, nämlich der Produktion und Reproduktion der Gesellschaft und ihrer eigentümlichen, warenproduzierenden Form, und noch entschlossener zu lauter Dingen hinschaut, die gar nicht produziert werden können, sondern historische Relikte anderer Gesellschaften sind, dann kann man die Arbeitswertlehre also »vernichten«.

Dass Jevons im letzten Satz selbst auffällt, dass die meisten Dinge in den Supermärkten »in jeder Menge durch Arbeit hervorgebracht werden können«, man es also in der politischen Ökonomie mit etwas ganz anderem zu tun hat als einer Ansammlung von Artefakten anderer Gesellschaften, ist kein Auftakt einer Revision seiner eigenen Kritik. Dass er selbst dort die Arbeit nicht als wertbildend ansieht, weil auch die Arbeitsprodukte »selten genau zu den entsprechenden Werten getauscht« werden, ist beredet. Immerhin ist »selten genau« auch nichts anderes als »meistens ziemlich« und dürfte unbefangenen Ökonomen eigentlich als Beweis des Gegenteils dessen gelten, wofür es stehen soll: Offensichtlich ist, Abweichungen, Sonderfälle und entgegenwirkende Tendenzen inklusive, nicht mal Jevons entgangen, dass die Arbeit etwas mit den »entsprechenden Werten« zu tun hat.

Der Wert der KI

Soviel in aller Kürze zum Vorwurf, die jüngsten Entwicklungen der Digitalisierung auf Grundlage einer Theorie verstehen zu wollen, die doch längst widerlegt sei. Umgekehrt allerdings ist auch marxistischen Ökonomen nicht fremd, die Aktualität der »Arbeitswerttheorie« zu »beweisen«, indem das Preisschild an künstlichen Intelligenzen und der Handel mit Daten derart mit Marx befriedet werden, dass das Schreiben von »Posts« und »Tweets« in den sogenannten sozialen Medien kurzerhand zur Arbeit erklärt und Daten damit zum »ungeheuren Reichtum« in Warenform gezählt werden, der bekanntlich den Kapitalismus ausmacht.

Waren es gerade noch die Urväter der subjektiven Wertlehre, die man eines gewissen Desinteresses am Gegenstand der politischen Ökonomie überführen konnte, muss man Ähnliches auch gegenüber denjenigen Marxisten konstatieren, die Datensätze und Wissen als Produkt von abstrakter Arbeit und damit als Wert fassen wollen. Immerhin hat Marx sich das Rätsel gestellt und beantwortet, wie eine gesellschaftliche Produktion und Reproduktion in komplexer Arbeitsteilung vonstatten geht, wo diese sich »hinter dem Rücken« der Eigentümer herstellt und das vorherrschende Motiv das Geldverdienen ist. Anders gesagt ist seine Frage: Was ist die Gesetzmäßigkeit von lauter Privatarbeiten, die sich erst bei Verkauf als gesellschaftliche Arbeit bewahrheiten?

Die besteht, nimmt man den alten Kritiker ernst, schon mal nicht in den »faux frais« der Produktion. Darunter verstand Marx all die falschen Kosten des Kapitals, etwa die für den Ein- und Verkauf von Rohstoffen und der fertigen Waren. Das ist zwar alles nötig, damit der Umschlag des Kapitals funktioniert, ist aber kein Beitrag zum gebrauchswertmäßigen Reichtum dieser Gesellschaft. Wo KI also massenweise als »Distributivmittel« eingesetzt wird, in der Werbeindustrie allen voran, mag zwar viel programmiert werden, mit »Wert« sollte das aber nicht verwechselt werden. Daran ändert sich auch nichts, wenn das Kapital die zum Training der KIs irgendwo in Nairobi sitzenden Klickarbeiter genauso in sein Diktat der Kostenreduktion und Produktivitätssteigerung eingliedert, so dass sie oberflächlich wie jeder produktive Arbeiter die Härte spüren, ein Leben als variables Kapital führen zu müssen.

Die »Herstellung« von Software oder das »Coden« von KIs per se als nicht wertbildend zu begreifen, ist dagegen ein ebenfalls verkehrter Schluss. Der konkreten Tätigkeit ist eben nicht abzulauschen, inwiefern sie sich in einer Gesellschaft der Privateigentümer als Beitrag zur Produktion und Reproduktion der Gesellschaft bewahrheitet: Wo in modernen Fabriken die Maschinen »geeicht« werden, indem Ingenieure mit ihrem Tablet durch die modernen Produktionsanlagen laufen, ist das nicht weniger ein Beitrag zur Produktion als der des Kollegen am Fließband. Damit ist das Coden im Dienste des Kaufens und Verkaufens nur nach seiner konkreten Tätigkeit vergleichbar, nicht aber nach seinem Beitrag für den gesellschaftlichen Stoffwechsel.

Der ist bei der Herstellung von Software oft genug ein wenig anders als bei der Herstellung von Autos. Während die gesellschaftlich notwendige durchschnittliche Arbeitszeit pro Auto sich sukzessive durch den technischen Fortschritt reduziert und so ein Wertverlust über die Zeit stattfindet, ist es bei einmal programmierter Software anders. Die kann – einmal programmiert – unendlich oft, (fast) ohne Arbeitsaufwand reproduziert werden: Ein fast totaler »moralischer Verfall« (Marx) des Werts. Oder anders ausgedrückt: Einmal programmiert, ist die gesellschaftlich notwendige durchschnittliche Arbeit zur Herstellung dieser Software nahezu null, ihr Wert also auch – egal, wie aufwendig ihre einmalige Produktion war.

Dass moderne Software sich direkt an Lizenzen koppelt, ohne Zugang zur »Cloud«, und permanente Programmierleistung aus den Techkonzernen also gar nicht mehr verwendet werden darf, dreht diese Erkenntnis gleich wieder um: So reagiert das Kapital darauf, dass Software lange Zeit, eben weil sie wertlos ist, nur durch das staatliche Gebot des geistigen Eigentums verkauft werden konnte, technisch unterstützt durch mehr oder minder gut funktionierenden »Kopierschutz«. Was das für den Wert von cloudbasierter Software heißt und einiges mehr, sind dann die Fragen, die eine politische Ökonomie der künstlichen Intelligenz zu beantworten hat.

Peter Schadt ist Gewerkschaftssekretär und hat gerade im Maroverlag ein Heft zur politischen Ökonomie der künstlichen Intelligenz veröffentlicht.

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