Missen und vermissen
Von Ken Merten
Immerfort herrscht Apokalypse. Stets ist Weltuntergang. Eine Neuigkeit schlägt alles Alte tot. Die CD mordete die Kompaktkassette und ließ den Vinylfetischisten zumindest kurz grübeln. Damit die Gattin von Norio Oga, Anfang der 1980er Vize von Sony Corp., nicht mitten in Beethovens Neunter die Scheibe wechseln musste, sollten 74 Minuten Spielzeit auf eine CD passen. Ein wohlwollendes Höchstmaß für Popalben, die bis dato, auf Schallplatte gepresst, kürzer sein mussten.
Heute findet sich die Compact Disc stapelweise in »Zu verschenken«-Kartons am Straßenrand. Als Artefakt verweist sie auf die Vergangenheit: In der Disney+-Serie »Paradise« sind sie Datenträger in einer postapokalyptischen Welt untertage und gleichsam Marker für die Nahbarkeit eines Präsidenten (gespielt von James Marsden), der die verkrachte Beziehung zu seinem Sohn (Charlie Evans) dadurch zu kitten sucht, dass er ihm 90s-Rock-Mixtapes brennt. Dass die kalkulierte Lebenserwartung einer gepressten CD 30 Jahre beträgt, ist ihr Problem nicht: Sie wurde vorher abgeschafft.
Übel ist nur, in welchem gesellschaftlichen Rahmen das stattfindet: Für Songs, die auf Spotify weniger als 1.000 Mal gestreamt werden, bekommen die Musikerinnen und Musiker seit 2024 gar nichts ab vom Streamingkonzern. Im Schnitt zahlt das luxemburgische Unternehmen pro Stream lächerliche 0,3 Cent. In Zeiten, als das Geld für Verkäufe im Plattenladen und Elektrofachmarkt noch weniger geteilt an einige wenige Major-Label-Arschlöcher ging, war der Zugriff auf Popmusik entsprechend eingeschränkter: Man musste die CD erwerben, oder auf die Güte derjenigen hoffen, die sie besaßen und wussten, wie man abspielbare Duplikate herstellt. Entsprechend halten sich manche Erinnerungen, wie man sie damals in der Hand hatte: Die gebrannte »Welcome to the Black Parade« (2006) von My Chemical Romance, oder Sidos Debütalbum »Maske« (2004), die kurz nach dem Kauf indiziert wurde. Der Stapel an Samplern in Pappschiebern, die dem 2019 als Print, 2022 dann gänzlich eingestellten HipHop-Magazin Juice beilagen.
Den Anfang der CD-Sammlung aber machte ein Weihnachtsgeschenk 2002: Die von Warner bzw. Bravo verlegte »Bravo Nu Rock«. Ich bekam sie und eine eigene Stereoanlage. Fortan rotierte die CD, und als sie das nicht mehr tat, stellte sich Jahrzehnte später, in Zeiten der Pandemie, heraus, dass das fehlte. Also baute ich sie nach, als Spotify-Playlist. Was nicht nur in Sachen Datenträger nicht das Gleiche ist: Das dusselige Solo in »Roots« der englischen Skapunker [spunge] kannte ich bis dahin glücklicherweise nicht, denn es fehlte auf dem Sampler, der mir im Vorfeld der Feiertage über TV-Werbung schmackhaft gemacht wurde. Von anderen Dummheiten weiß wiederum die Welt heute weniger: Der in Gänze bescheuerte Lobgesang auf den Rock der jüngst in die Auflösung übergegangenen Kanadier Sum 41, »It’s What We’re All About«, soll wohl der Vergessenheit anheimfallen und findet sich nicht in der Audiothek. Nichts, was vermisst sein will.
But much else was missed: Bis heute hadere ich mit der Weltsprache, mal mehr, mal weniger. Aber als Sechstklässler gesellte sich zu den partikularen Englischkenntnissen ein eingeschränktes Poetikverständnis, das ich mir mit einigen der Interpreten teilte: Das Acousticstück »Outside« der Post-Grunge-Band Staind etwa will das Verschmähen aus oberflächlichen, optischen Gründen und die damit einhergehende charakterliche Hässlichkeit des Prellers vermitteln. »But I’m on the outside, I’m looking in / I can see through you, see your true colors / ’Cause inside you’re ugly, you’re ugly like me / I can see through you, see to the real you.« Well, es ist ja eben nicht das gleiche Unschöne – und das will mit dem Song ja eigentlich auch gesagt werden. Aber als musikalischen Ausdruck pubertärer Gefühlswirrnis mochte »Outside« zweifellos funktionieren. Welche Hässlichkeit Sänger Aaron Lewis als Solokünstler vergangenes Jahr präsentierte, als er mit »Made in China« bekundete, er sei nicht »from all the cheapest parts« gefertigt, sondern »American as it gets«? Eine Hässlichkeit billigsten, nationalistischen wie sinophoben Inhalts jedenfalls. Manche, so sieht man, werden kindischer mit den Jahren.
Andere verschwinden: Silverchair werden im drolligen und mit viel Kinderdeutsch verfassten Booklet als »Australiens erfolgreichste Rockband der Gegenwart« geführt, und das gar »unbestritten«. Warum? Sie hätten bis dato ganz einfach die meisten Songs in den australischen Charts untergebracht. Bei so viel Beweisführung sind sogar AC/DC thunderstruck. Naja, die Alternativrocker lösten sich 2011 auf und werden heute kaum noch gekannt. Silverchairs Samplerbeitrag, das stark orchestral und perkussiv eingeleitete Stück »Without You«, erhält heute eine neue Dimension. Auch dadurch, dass das Synthesizeroutro – einzelne Ionen, die davon geweht werden – damals nicht mitgepresst worden war. Vergänglichkeit.
Andere gingen in Folge noch weiter durch die Decke: Nickelback (»Too Bad«) natürlich, auch wenn sie selbstverständlich niemand mag. Anhand von Linkin Park (»In the End«) und Disturbed (»Down With the Sickness«) ließe sich, so man auf blöde Witze steht, heute evaluieren, wer welcher Seite im US-amerikanischen Zweiparteienstaat angehört: Democrats hören trotz (oder wegen) der neuen, Scientology angehörenden Sängerin Emily Armstrong Linkin Park; Republicans mögen beim Singen der Disturbed-Lyrics (»Never stick your hand in my face again, fuck you! / I don’t need this shit, you stupid sadistic abusive fucking whore / Would you like to see how it feels, mommy? / Here it comes, get ready to die«) nicht nur an Ödipus und Iokaste, sondern gleich an jeden Feminazi denken, der ihnen je etwas habe abschnippeln wollen.
Andere hatten kurz darauf ihren Zenit: Hoobastank (»Crawling in the Dark«) veröffentlichten 2003 mit »The Reason« ihr zweites und »das« Album, vom ursprünglichen Ska war man komplett zu Alternative übergegangen. Für den im Samplertitel verballhornten Nu Metal war der Höhepunkt bereits erreicht: Die Schwemme ließ nach, P. O. D. (»Boom«) und Papa Roach (»She Loves Me Not«) hielten sich, waren aber nicht mehr Größen einer eigenständigen, vitalen Szene. Unter ferner liefen seitdem: Bands wie Alien Ant Farm. Das Quartett hatte sich 2001 mit seinem Cover von Michael Jacksons »Smooth Criminal« zu viel MTV-Sendezeit gebracht und gilt damit als One-Hit-Wonder höherer Ordnung: Der Hit ist eine Fremdschöpfung. Auf der »Bravo Nu Rock« allerdings ist der wirkliche Klassiker der Band: »Attitude« ist mit Cowbells im Hintergrund und einer konsequent gezupften, latinisierten und nur leicht mit Halleffekt manipulierten Gitarre der zehnte von 20 Songs und auch sonst das Herzstück der CD. Abstoßung und Anziehung, Zwischenmenschliches als Hochkomplex: »Maybe I act on confused behavior / Maybe waves crash like semi-trailer / Maybe I’ll spend my off-time without you / It seems like we need our own space / And all this time I’ve wasted away / To not feel good unless you stay, stay, stay / And all this time I’ve chased you away / Simply to catch back up with.« Es wäre ein frivoler Rückfall in die Spätkindheit, würde ich behaupten, der Song habe mich für das spätere Leben präpariert. Aber auch das Gegenteil lässt sich nicht behaupten.
»Würdest Du Dir eine ›Bravo Nu Rock 2‹ kaufen?«, wurde in der Gewinnspielumfrage im Booklet gefragt. Ja. Selbstverständlich. Es hat sie aber nie gegeben.
Diverse: »Bravo Nu Rock« (Warner)
Ken Merten lebt an Land, in Leipzig. 2024 erschien sein Debütroman »Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist« im Berliner XS-Verlag.
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