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Aus: Sieg & Befreiung, Beilage der jW vom 07.05.2025
8.Mai

Die zweite Armee

Englands Arbeiterklasse an der Heimatfront im Zweiten Weltkrieg
Von Phil Katz, Cambridge
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Wahrhaft ein Feiertag. Massen bejubeln am 8. Mai 1945 am Londoner Trafalgar Square das Kriegsende

Der 80. Jahrestag des Victory-in-Europe-Day markiert einen Triumph, der nicht allein von Generälen oder Politikern errungen wurde, sondern dank der Opfer der britischen Arbeiterklasse. Der Krieg wurde durch die kollektive Kraft der Munitionsarbeiter, den Einfallsreichtum der Ingenieure und den unerschütterlichen Geist in den Gemeinden gewonnen, trotz ständiger Bombardements. Frauen strömten in die Fabriken und auf die Felder, Gewerkschaften wurden zum Rückgrat der Produktion; und zum ersten Mal in der Geschichte arbeitete der Staat für und nicht gegen das Volk. Doch die sterilen Gedenkfeiern von heute erzählen eine andere Geschichte – Regierungen feiern den Frieden, indem sie Damaskus oder den Jemen bombardieren lassen, während die Öffentlichkeit auf einen passiven Nebenschauplatz verwiesen wird. Da Osteuropa erneut zum Schlachtfeld geworden ist, ist es wichtiger denn je, die wahre Geschichte dieses Kampfes zu verteidigen.

Grundlagen des Widerstands

Die Kriegsanstrengungen begannen nicht erst 1939, die sozialen Verheerungen des letzten Krieges waren noch spürbar: Die Erinnerungen an Hungermärsche und bürokratische Hürden bei der Beantragung staatlicher Unterstützungsleistungen schürten die Entschlossenheit, dass dieser Krieg anders verlaufen müsse. Der Kampf gegen Oswald Mosleys »Schwarzhemden« hatte die Arbeiterviertel bereits gegen den Faschismus gestählt. Als Mussolini Abessinien überfiel und Hitler Guernica bombardierte, verstanden die arbeitslosen Hafen- und Fabrikarbeiter Großbritanniens, dass es um den Kampf für den Frieden und, wenn nötig, um den Krieg ging – lange bevor Churchill dies erkannte. Chamberlains Verrat in München war nicht nur ein diplomatisches Versagen, sondern auch ein Beweis dafür, dass die alte Elite lieber mit Faschisten verhandelte, als die spanische Republik zu bewaffnen.

Die Kommunistische Partei wurde trotz früherer Debatten über den Charakter des Krieges zu einer unerbittlichen antifaschistischen Kraft. Ihre Mitglieder – viele von ihnen frisch zurück aus den Internationalen Brigaden – brachten die Disziplin des Schlachtfeldes in die Heimwehr (Home Guard) und in die Fabriken. Unterdessen wurde die Heuchelei der herrschenden Klasse offenbar. Lord Halifax, der bald Außenminister werden sollte, schrieb privat, er bewundere Hitlers »Leistung« bei der Zerschlagung des Kommunismus – obwohl der Terror der Gestapo nicht mehr zu übersehen war. Als der Krieg kam, war es die Linke, nicht die Faschisten, die der Staat zunächst fürchtete. Der Daily Worker wurde verboten, doch es war Mosley, der eingesperrt wurde – eine bezeichnende Verschiebung, als sich die Bedrohung von innerer Subversion zu einer offenen Invasion verlagerte.

Die von den Briten als The Blitz bezeichneten Angriffe der Luftwaffe zerstörten nicht nur Städte, sondern auch Klassenbarrieren. Mittelständische Autobesitzer standen neben Reinigungskräften Schlange an der Bushaltestelle; Aristokraten murrten, als Bevins Ministerium Mieten und Gewinne festlegte. In Coventry wurde der Gewerkschaftsführer Jack Jones – ein Veteran des Spanischen Bürgerkriegs – zu Churchills Auge und Ohr und leitete über ein Netzwerk von Fahrrad fahrenden Betriebsräten Produktionsberichte von der Front weiter. Die Home Guard, oft als »Dad’s Army« verspottet, war in Wirklichkeit eine Volksmiliz, deren beste Einheiten von Kommunisten ausgebildet wurden, die Francos Panzern gegenübergestanden hatten.

Dies war ein Ausblick auf den Sozialismus, der nur dem Namen nach fehlte. Die Übergewinnsteuer holte die Kriegsgewinne zu 100 Prozent zurück. Fabriken wurden demokratisiert, indem Arbeiter durch gemeinsame Produktionskomitees die Kontrolle über Einstellungen und Sicherheit bekamen. Wissenschaftler wie J. D. Bernal, der die »Mulberry«-Häfen für den D-Day entwarf, und J. B. S. Haldane, Pionier der Luftschutzbunker, wurden zu Volkshelden, weil sie die Arbeiter als Mitarbeiter und nicht als Rädchen im Getriebe behandelten. Zum ersten Mal hatten Bergleute, Krankenschwestern und Fabrikarbeiterinnen bezahlten Urlaub. Das Bildungsgesetz von 1944 und der Beveridge-Bericht waren keine Geschenke von oben – sie wurden einem Staat abgerungen, der die Gegenreaktion fürchtete, wenn er sie nicht umsetzte. Bevins erste Amtshandlung als Minister für Arbeit und Nationaldienst war die Abschaffung der Bedürftigkeitsprüfung.

Die Ministerien begannen, die Einsatzplanung der Arbeitskräfte, die Nutzung von Fabrikflächen, die Versorgung mit Rohstoffen, Brennstoffen und Lebensmitteln zu planen. Dies wurde von Gewerkschaften in gemeinsamen Produktionsausschüssen überwacht. Etwa zwei von sieben Häusern in Großbritannien wurden durch den Krieg beschädigt. In Bermondsey blieben nur vier von hundert unversehrt. Im Juni 1941 waren zweieinhalb Millionen Menschen obdachlos und auf der Flucht. Alle Bürger im Alter von 18 bis 60 Jahren leisteten irgendeine Form von Nationaldienst. Ein Drittel dieser 23 Millionen waren Frauen. Dies führte zu einer irreversiblen Veränderung des Familien- und Gemeinschaftslebens der Arbeiterklasse und wirkte sich auf die Gewerkschaftsmitgliedschaft und die Prioritäten aus. Die Gewerkschaften setzten sich für gleiche Bezahlung ein. Das Leben der Arbeiterklasse veränderte sich.

Die erste Kriegsphase war nach dem »Sitzkrieg« (Phoney War) von Tiefenverteidigung und Rückzug geprägt. Später, nach dem Sieg in Stalingrad und in der Wüstenschlacht von El Alamein (November 1942), schlossen sich die Menschen zusammen, brachten ihren sozialistischen Instinkt in den Kampf ein und begannen die bis dahin tiefgreifendste Transformation der Staatsmacht. In dieser Transformation entstand die Idee des Wohlfahrtsstaates. Der Staat wurde als moderner, effektiver und effizienter angesehen als die kapitalistische Klasse mit ihrer Profitgier und ihrem Konkurrenzkampf. Er behauptete auch die moralische Überlegenheit des Kollektivismus gegenüber dem Individualismus. Nachbarn teilten sich Werkzeuge und sogar Anzüge, um heiraten zu können. Es entstanden Volkskampagnen, »Saucepans for Spitfires« (Eine Pfanne für die Spitfires) und »Make Do and Mend« (Ausbessern statt neu kaufen) wurden zu kollektiven Ausdrücken, die aber auch die Genialität der einfachen Menschen verdeutlichten, sobald ihre latente Kraft freigesetzt war. Es entstand ein soziales Gefüge, das der Autor James Hinton in seiner Studie über diese Zeit mit »Shop Floor Citizens« (Bürger der Werkstatt) beschrieb.

Da die Funktionäre im Krieg waren, wurden die Gewerkschaften von Laien geführt. Sie umfassten nun Mitglieder und Organisationen in völlig neuen Industriezweigen wie der Chemie-, Gummi- und Kunststoffindustrie. Die von den Gewerkschaften kontrollierte Ausbildungsagentur nutzte »Essential Works Orders« (Verordnungen über unverzichtbare Arbeiten), um die Arbeitsbedingungen von 8,5 Millionen Arbeitern in 67.000 Verordnungseinrichtungen zu verbessern. Angestellte, insbesondere in der wachsenden Wissenschaftsindustrie, aber auch Landarbeiter gewannen neue Kraft, da der nationale Opfergeist die Kluft zwischen Arbeitern und Angestellten sowie zwischen Stadt und Land verringerte.

Wissenschaftler spielten eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung von Krankheiten. Trotz der durch Bombenangriffe verursachten Schäden an der Kanalisation konnte eine Typhusepidemie verhindert werden. Es wurden nationale Impfprogramme gegen Diphtherie eingeführt. Säuglinge erhielten mit Vitaminen angereicherte Milch.

Die Kommunistische Partei wechselte innerhalb von nur einem Jahrzehnt von einer Politik der Einheitsfront zu einer Volksfront und dann zu einer Nationalfront und füllte den Trafalgar Square und die größten Auditorien des Landes mit Forderungen nach einer zweiten Front im Krieg. Churchill versuchte, sich aus seiner Verpflichtung zur Eröffnung einer Westfront zur Unterstützung der sowjetischen Armee herauszuwinden, doch die Kampagnen der Bevölkerung machten dies unmöglich. Der Klassenkampf war noch lange nicht vorbei, und die Gewerkschafter kämpften erfolglos für die Abschaffung des Trade Disputes and Trade Union Act von 1927. Dieses Gesetz, das Streiks verbot, die direkt oder indirekt die Regierung unter Druck setzen sollten, war vor allem in den Bergbaugebieten verhasst.

Betrachtet man all diese Faktoren, ist es nicht schwer zu verstehen, wie Labour am 5. Juli 1945, die Parlamentswahlen gewinnen konnte. Niemand unter 31 Jahren hatte zuvor an einer Wahl teilgenommen, und die Erfahrungen, Erwartungen und der Einfluss der Arbeiterbewegung dieser Generation sollten Großbritannien radikal verändern. Sowohl die Labour Party als auch die Kommunistische Partei wurden von einer neuen Generation junger Ingenieure, Bergleute und zurückkehrender Unteroffiziere dominiert.

1945: Versprechen und Verrat

Der Erdrutschsieg der Labour-Partei war kein Zufall. Die heimkehrenden Soldaten, die Wüsten durchquert und Lager befreit hatten, wollten nicht in die Slums zurückkehren. Das britische Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS), die Verstaatlichung der Bergwerke und das Gesetz über Löhne im Gastronomiegewerbe, das die fast sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen in Herrenhäusern beendete, waren Siege. Aber die herrschende Klasse war nicht verschwunden. Sie kämpfte um jeden Zentimeter sozialen Territoriums: Sie verwässerte die Verstaatlichung und blockierte die Arbeiterkontrolle. Initiativen wie die Einrichtung eines nationalen Wohnungsbauprogramms wurden blockiert. Einige wurden gar nicht erst umgesetzt, wie das nationale Mietkaufprogramm. Das Schulpflichtalter wurde auf fünfzehn Jahre angehoben, und das Rentenalter gesenkt. Die Arbeiter stellten indes wichtige Forderungen und konnten sie auch durchsetzen, wie die Abschaffung der obligatorischen Lohnschlichtung.

Der Sieg in Europa wurde im Mai 1945 errungen, in anderen Teilen der Welt im August. TUC, der Gewerkschaftsdachverband, rief in jenem Jahr dazu auf, die Gewerkschafter der Welt in einem Weltverband zu vereinen. Dies wurde im Oktober umgesetzt. Im selben Monat wurden die Vereinten Nationen gegründet. Im November begannen die Nürnberger Prozesse. 1946 wurde das Gesetz zur Verstaatlichung der Kohleindustrie verabschiedet. Und trotz des Beginns des Kalten Krieges wurde 1948 der NHS gegründet. Die Unterernährung wurde beendet.

Im Ersten Weltkrieg starben zwar mehr Briten, aber der wirtschaftliche Schaden war im Zweiten Weltkrieg weitaus größer. Zwei große britische Armeen traten im Zweiten Weltkrieg auf unterschiedliche Weise in Aktion. Die erste kämpfte im Ausland, ihre Regimenter und ihre Arktis-Konvois wurden für ihre Rolle bei der Abwehr der Invasion und der späteren Niederlage Hitlers mit Ruhm bedeckt. Aber neben ihnen stand die große Armee der organisierten Arbeiterschaft, die sich gewandelt hatte und für die Kriegsproduktion und eine neue Gesellschaft kämpfte.

Phil Katz ist Autor von »Freedom From ­Tyranny – the war against fascism and historical revisionism«. Er schreibt regelmäßig für den Morning Star, der uns seinen Text als unser Kooperationspartner zur Verfügung gestellt hat.

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