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Aus: Sieg & Befreiung, Beilage der jW vom 07.05.2025
8.Mai

Weiter finstere Zeiten

Eine Ausstellung in Warschau versucht, sich der Situation der Überlebenden des deutschen Judenmords nach Kriegsende zu nähern
Von Reinhard Lauterbach, Warschau
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Beinahe vollständig zerstörte Stadt: Warschau im Februar 1945

Es ist geradezu ein Wunder: Im Essayband der Ausstellung »1945. Kein Ende, kein Anfang« im Muzeum »Polin«, dem Museum der Geschichte der polnischen Juden in Warschau, finden sich doch tatsächlich Aussagen wie diese: »Die Russen hoben die gegen mich verhängte Todesstrafe auf und gaben mir das Recht auf Leben und Würde zurück«. So etwas im Jahre 2025? Vielleicht darf ein jüdisches Museum mehr, vielleicht sind auch einfach die Zahlen zu unwiderleglich. Von den 3,5 Millionen Juden, die 1939 in Polen lebten, überlebten den Krieg im Inland 30- bis 50.000 – ungefähr 1,5 Prozent. Dass die jüdische Gemeinschaft in Polen nach 1945 vorübergehend wieder auf etwa 300.000 Menschen anwuchs, ist in erster Linie dem Umstand zu verdanken, dass in der Sowjetunion etwa 280.000 polnische Juden überlebt hatten, und dies paradoxerweise genau deshalb, weil Stalin sie in seinem Misstrauen gegen alles Polnische im asiatischen Teil der UdSSR ansiedelte – bis dahin kamen die Deutschen und ihre »Einsatzgruppen« nicht. 230.000 von ihnen wurden ab 1946 »repatriiert« – 50.000 entschieden sich offenbar zu bleiben. Aber das nur am Rande.

Der Schwerpunkt der Warschauer Ausstellung liegt aber nicht in der Würdigung der Roten Armee, die – nach einem anderen Zeitzeugen – das Feuer unter den Krematorien löschte. Sie versucht uns nahezubringen, wie sich Menschen fühlten, die alles und alle verloren hatten. Die bereits zitierte Überlebende fuhr fort: »Aber dieses Bewusstsein weckte in mir nur ein Gefühl schrecklicher Einsamkeit. Plötzlich kam der jahrelang verdrängte Schmerz über den Verlust meiner ganzen Welt wieder hoch. Ich war allein in einer feindlichen Umgebung.«

Die Aussagen der Warschauer Ausstellung können den Päpsten der rechten Geschichtspolitik in Polen nicht gefallen. Gerade, weil die Tafeln höflich vom »unabhängigkeitsorientierten Untergrund« sprechen, wenn sie Überfälle auf jüdische Rückkehrer von seiten nationalistischer Banditen unter der Leitung von Leuten, denen heute in Polen Denkmäler errichtet werden, beschreiben: aus dem Zug geholt, ausgeplündert und im besten Falle »nur« verprügelt. Das steigert die Fallhöhe. Über lange Jahrzehnte war es in Polen tabu, die mehr als 100 Pogrome gegen überlebende Juden zu erwähnen: Allein beim größten in Kielce im Juli 1946 wurden 42 Menschen getötet: »Schädelbasisbruch nach Sturz aus dem Fenster, Kieferbruch nach Einwirkung eines stumpfen Gegenstandes«, wie der Gerichtsmediziner lakonisch festhielt. Das Opfer war 17 Jahre alt, hatte Auschwitz überlebt. Und gehofft, in der relativ großen Stadt Kielce sicherer zu sein. Ausgelöst wurden die Pogrome durch Raublust oder die üblichen Gerüchte über angebliche Ritualmorde »der Juden« an christlichen Kindern. Nur ein Teil des katholischen Klerus hat sie verurteilt.

Das Eindrucksvollste, was man in der Ausstellung sehen kann, sind Filmfragmente. Etwa aus dem 1948 fertiggestellten, aber nie in die Kinos gekommenen Spielfilm »Rückkehr. Die Sackgasse«. Es geht darum, wie eine KZ-Gefangene wieder ihre alte Wohnung betritt, die natürlich nicht mehr die ihre ist. Es sprechen der etwa zehnjährige Junge der neuen Bewohner und die Überlebende:

»Und wir dachten, Sie leben nicht mehr.«

»Doch, ich lebe.«

»Das ist nicht gut.«

»Warum?«

»Was sollen wir mit Ihnen anfangen?«

Ein anderes Beispiel: eine aus Ravensbrück nach Łódź heimkehrende Kommunistin hörte vom Straßenbahnschaffner, den sie auf ihr Recht auf kostenlose Beförderung aufmerksam machte: »Ach, ich hätte nicht gedacht, dass von euch so viele übrig geblieben sind«.

Der Großteil der Exponate sind kleine bis winzige Schriftstücke, Zeitungsausschnitte und vergilbte Fotos. Leider ist das Licht in dem abgedunkelten Saal zu schwach, als dass man viel erkennen könnte. Sicher, konservatorische Gründe, Licht schadet den Originalen. Und dann wieder ein Film: ein Aufmarsch junger Zionisten mit Fanfaren, Gesängen und Trommlern – unterlegt mit dem Trauermarsch aus Beethovens Siebter.

Das »Jüdische Zentralkomitee« versuchte nach Kräften, den entwurzelten Heimkehrern in Polen den Neustart zu erleichtern. Dafür boten sich die ehemals deutschen Gebiete an: Dort gab es freie Wohnungen, und niemand musste ethnischen Polen, die sich während des Krieges die Wohnungen ihrer jüdischen Nachbarn angeeignet hatten, auf die Füße treten. So kam es, dass im niederschlesischen Reichenbach (heute: Dzierżoniów) in den ersten Nachkriegsjahren mehrere tausend jüdische Überlebende angesiedelt wurden. Sie gründeten eine Musterlandwirtschaft und Handwerkskooperativen – offen bleibt, ob sie dies taten, um zu bleiben, oder als Vorbereitung auf die Auswanderung nach Palästina.

Das Verhältnis der volksdemokratischen Staatsmacht zu den jüdischen Überlebenden war ambivalent. Sie brauchte sie als Arbeitskräfte, aber so richtig gewollt waren sie nicht. Die Partei hielt jüdische Funktionäre an, ihre Namen in »polnischer« klingende zu ändern. Der Vater von Adam Michnik, dem Chefredakteur der Gazeta Wyborcza zum Beispiel, hieß ursprünglich Ozjasz Szechter, Michnik war der Nachname der Mutter.

Hauptperspektive der Ausstellung ist die in Wellen erfolgende Auswanderung der polnischen Überlebenden nach Israel. Dass die jüdische Kampforganisation Haganah bereits in Polen militärische Ausbildungslager einrichtete, wird knapp erwähnt, aber nicht eingeordnet. Vielleicht wäre es zuviel verlangt von einer jüdischen Einrichtung, in der sogar im Museumscafé an der Kasse ein israelisches Fähnchen steht, dass sie einräumt: Die Zionisten wussten schon vor der Staatsgründung Israels, dass sie ihr »Gelobtes Land« jemandem wegnehmen mussten. Die Nakba deutet sich an; thematisiert wird sie nicht.

Man verlässt die Ausstellung mit gemischten Gefühlen, gerade als Deutscher. Schließlich hat die deutsche Besatzung die zivilisatorischen Grenzen niedergerissen und so die innerpolnischen Scheußlichkeiten erst ermöglicht, von denen diese Ausstellung erzählt. Diese polnisch-jüdische Feindseligkeit überdauerte das Kriegsende. Von Solidarität unter den Opfern war offenbar wenig zu spüren. Die US-Armee in Deutschland entschied 1947, jüdische und ethno-polnische Displaced Persons in getrennten Lagern unterzubringen. Zu oft war es zu Schlägereien zwischen beiden Gruppen gekommen. Und die britische Besatzungsmacht schloss die von ihr geführten DP-Lager nachts ab – jüdische DPs hatten die Dunkelheit zu Überfällen auf die deutsche Bevölkerung genutzt. Generell wussten auch die USA und Großbritannien offenkundig nicht, was sie mit all diesen Juden anfangen sollten. Für die Briten als Mandatsmacht in Palästina stellten sie ein Ordnungsproblem dar, daher ließen sie nur begrenzte Zahlen entwurzelter Juden dorthin. Ins eigene Land sowieso nicht. Eine Vitrine erzählt die Geschichte einer Familie, die ein Visum für die USA beantragte und der gesagt wurde, das Kontingent für Juden sei erschöpft. Aber es gebe noch Plätze für Deutsche. Also besorgten sie sich bei einem Pfarrer, der das Kirchenbuch selbst führte und beglaubigen konnte, was er wollte, gefälschte deutsche Papiere und schafften es. Der Sohn errang 1981 für die USA den Nobelpreis für Chemie.

Die Warschauer Ausstellung zeigt die dunkle Seite der Befreiung 1945. Nicht in dem Sinne der Rede von den »zwei Okkupationen«, die heute zum herrschenden Diskurs gemacht werden soll. Sondern indem sie aus der Vergessenheit zurückholt, welche »finsteren Zeiten« (Brecht, »An die Nachgeborenen«) der deutsche Faschismus nicht nur über das deutsche Volk gebracht hat, sondern welche Gespenster er auch in den besetzten Ländern geweckt hat. Lichtgestalten gab es wenige. Ehre ihrem Andenken.

1945. Nie koniec, nie ­początek (Kein Ende, kein Anfang). Muzeum »Polin«; Warschau, ul. Anielewicza 6, www.polin.pl, noch bis 15. September, täglich außer Dienstag, Eintritt 45 Złoty. Essayband auf polnisch 75 Złoty, auf englisch 120 Złoty

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